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Ansichtsexemplar (KPB_MJ2014) - Kulturprojekte Berlin

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Deutsches Historisches Museum | Ausstellungen<br />

»Les Constructeurs« eine heitere, sozialistische<br />

Utopie. Er konnte oder wollte nicht wissen, dass<br />

der Versuch, diese zu verwirklichen, in die Gulags<br />

führte.<br />

Anselm Kiefer und andere suchen historische<br />

Verdrängungen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />

zu rücken. Der Blick in die Folterkammern<br />

zeigt, dass »Schrecken und Finsternis« real sind.<br />

Doch nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien<br />

herrschen Gewaltverhältnisse. Die Allgegenwart<br />

von Gewalt thematisiert etwa Sabina<br />

Shikhlinskaya. Auch Kinder können jederzeit<br />

Opfer von Gewalt werden, wie es Tadeusz Kantor<br />

zeigt. Den massiven Einschränkungen, denen<br />

sich die Menschen im Sozialismus ausgesetzt<br />

sahen, bringt Mladen Stilinović in seinem Wörterbuch<br />

zum Ausdruck. Es gibt keine Wörter<br />

mehr – nur noch das eine: »Schmerz«.<br />

Nach den eher abstrakten, gesellschaftlich<br />

relevanten Kategorien in den Kapiteln eins bis<br />

sechs gerät ab Kapitel sieben der Mensch immer<br />

mehr in den Blick: Wie denken die Künstler über<br />

den unaufhaltsamen Fortschritt, der unter dem<br />

Namen »Moderne« eine komplexe Struktur des<br />

Marktes, der Finanz- und Wirtschaftswelt hat<br />

entstehen lassen Andreas Gursky zeigt eine<br />

Welt, in der alles Konsum und jede Differenz nivelliert<br />

ist. Selbst die Natur scheint dem Diktat<br />

des Marktes unterworfen zu werden, womit die<br />

Frage aufkommt: Ist der Mensch Herr, Bewahrer<br />

oder Zerstörer der Schöpfung Im neunten Kapitel<br />

geht es um die Hülle bzw. um das Futteral<br />

der menschlichen Existenz. Dazu zeigt Donald<br />

Rodney in der Arbeit »Im Haus meines Vaters«<br />

die Zerbrechlichkeit des Lebens. Im zehnten Teil<br />

dann sehen die Künstler den Menschen schutzlos,<br />

wenn ihm die Alternativen verloren gehen:<br />

Sie denken sich in eine andere Welt, weshalb<br />

Lucio Fontana nach der Schreckenserfahrung<br />

des Zweiten Weltkriegs mit dem »Spazialismo«<br />

die Unendlichkeit des Universums erfahrbar<br />

machen wollte. Im elften Kapitel ist der Mensch<br />

mit sich selbst beschäftigt, aber auch mit seinen<br />

Ian Hamilton<br />

Finlay, Je vous<br />

salue Marat/<br />

Gegrüßet seist<br />

Du Marat, 1989.<br />

Neonröhren,<br />

Plexiglas,<br />

46 × 61 ×9cm.<br />

Mit freundlicher<br />

Genehmigung<br />

der Kewenig<br />

Galerie, Köln.<br />

© Estate of Ian<br />

Hamilton Finlay,<br />

Kewenig Galerie,<br />

Köln. Foto:<br />

Simon Vogel<br />

Grenzen. Francis Bacon wie andere Künstler setzen<br />

sich in einer kaum denkbaren Radikalität mit<br />

sich auseinander. Das zwölfte Kapitel schließlich<br />

widmet sich der künstlerischen »Welt im Kopf«.<br />

Hier stößt die Einbildungskraft des Künstlers,<br />

stoßen die Gegenwelten seiner »Kopfgeburten«<br />

abermals auf Vernunft, Utopie und Geschichte,<br />

Schrecken und Finsternis. Und wie viele Ideen<br />

haben etwa Joseph Beuys oder Erik Bulatov in<br />

die Welt gebracht<br />

Von der »Welt im Kopf« nehmen die Ideen<br />

ihren Lauf wieder hinaus in die Welt; eine Art<br />

Kreislauf entsteht. Die Themen der Künstler sind<br />

unabhängig von Zeit und Ort, kehren in sich verändernden<br />

Vorstellungen und Zusammenhängen<br />

immer wieder zurück und exponieren immer<br />

neu die Grundfragen unserer Existenz: Wie lebt<br />

der Mensch, wie organisiert, wie orientiert er<br />

sich Es geht um die Freiheit im gesellschaftlichen<br />

wie im individuellen Leben. Und darum,<br />

welche Verantwortung der Mensch teilt.<br />

Die »moderne« Kunst, da sind sich die meisten<br />

Kunsthistoriker einig, ist eine Folge der<br />

Aufklärung und war lange Zeit mit der Idee des<br />

Fortschritts verbunden. Von der Kunst stammt<br />

zumeist schon sehr früh der Einspruch der Vernunft,<br />

die ins Bild gesetzte Erkenntnis der Probleme.<br />

Goyas »Schlaf der Vernunft« ist die Ikone<br />

dieser Fragestellung geworden. Kunst hat Krisen<br />

thematisiert, Tabus gebrochen, Erstarrungen gelöst,<br />

Diskussionen erzeugt. Sie durchschneidet<br />

die Trennlinie zwischen den Generationen und<br />

Territorien, verbindet die Zukunft mit der Gegenwart.<br />

Kunst hat dazu beigetragen, Erkenntnisse<br />

über die Fehlentwicklungen der Moderne<br />

zu gewinnen und zugleich die Moderne durch<br />

ihre Kritik zu verteidigen. Und klärt uns die<br />

Kunst nicht über die gesellschaftlichen Deformationen<br />

auf<br />

Sie präsentiert nicht das richtige, sie erfindet<br />

ein mögliches Leben. Anders als die Historienbilder<br />

(die das richtige Leben zeigen wollen), decken<br />

die Werke in unserer Ausstellung die Probleme<br />

unserer Zeit auf. Sie machen die Idee der<br />

Freiheit nicht nur sichtbar, sondern befragen<br />

sie. Es könnte auch alles ganz anders sein (oder<br />

kommen), lautet die gar nicht so unterschwellige<br />

Devise. Bildende Kunst ist, anders als das<br />

Wort, eine universelle Sprache, die ohne Übersetzung<br />

überall (und überall anders) gedeutet<br />

werden kann. Sie lässt sich von keiner Mauer,<br />

von keinem Eisernen Vorhang davon abbringen,<br />

die Idee der demokratischen und künstlerischen<br />

Freiheit in ungeahnte Weiten zu tragen.<br />

Monika Flacke<br />

Prof. Dr. Monika Flacke ist Sammlungsleiterin am Deutschen<br />

Historischen Museum und Gesamtleiterin der<br />

Ausstellung. Sie hat die Ausstellung zusammen mit<br />

Henry Meyric Hughes und Ulrike Schmiegelt kuratiert.<br />

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, in dem ca. 250<br />

Kunstwerke ausführlich beschrieben werden. Der <strong>Berlin</strong>er<br />

Kunst- und Bildhistoriker Horst Bredekamp hat die<br />

zwölf Kapitel in einer vorangestellten Übersicht<br />

zusammengefasst. Der Katalog bedeutet in seiner Art<br />

ein Novum: Er erscheint sowohl in einer ausführlichen<br />

elektronischen als auch in einem knapperen Printformat.<br />

M U S E U M S J O U R N A L 4 / 2 0 1 2 | 7 7

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