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Ansichtsexemplar (KPB_MJ2014) - Kulturprojekte Berlin

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Literaturhaus <strong>Berlin</strong> | Ausstellungen<br />

Alternativ zum literarischen Mainstream arbeitete<br />

Heißenbüttel in den 1970er-Jahren einen<br />

literarischen Gegenkanon heraus. Hierzu zählt<br />

sein Konzept einer »Offenen Literatur«, die sich<br />

aus Gattungskonventionen löst sowie die Autorenmusik,<br />

einer offenen Textsorte als Artefakt<br />

zwischen Literatur und Musik. Zusammen mit<br />

Franz Mon (geb. 1926) gab er die »Anti-Anthologie«<br />

heraus, die Gedichte nach der Anzahl ihrer<br />

Wörter versammelte.<br />

Ein breiteres Publikum erreichte er in den<br />

späten 1970er-Jahren als Erzähler mit »Eichendorffs<br />

Untergang und andere Märchen« von<br />

1978 und »Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht<br />

gewonnen hätte« von 1979. Die anfänglichen<br />

Stein’schen Experimente modifizierte er in autobiografischen<br />

experimentellen Quasi-Selbstentwürfen<br />

neu. Das bislang von der literaturwissenschaftlichen<br />

Forschung kaum gewürdigte<br />

Antiwerk, Heißenbüttels modernes großes<br />

Romanprojekt »d’Alemberts Ende«, harrt weiterhin<br />

eines gründlichen Gelesenwerdens durch<br />

die Leser.<br />

Versucht man, Heißenbüttels literarisch-ästhetisches<br />

Konzept der Grenzüberschreitung<br />

der Formen, Gattungen und Stile zu erfassen,<br />

bietet bereits die Lektüre der wunderbar klaren<br />

programmatischen Titel seiner poetischen und<br />

literarhistorischen Essays eine gute Orientierung.<br />

So reichen diese von »Grenzformen der<br />

Dichtung [Über Ausbruchsversuche aus dem traditionellen<br />

Poesieverständnis]«, »13 Thesen über ästhetische<br />

Grenzüberschreitung«, »Von Stockhausen<br />

bis zum Western« über »Spielregeln des Kriminalromans«<br />

bis zur beinahe popartigen »Integration<br />

des Banalen«, bei der er schon den –<br />

mittlerweile längst im literarischen Kanon etablierten<br />

– Comic im literarischen Fachblick hatte.<br />

Bleibt zuletzt auf die wichtigen methodischen<br />

und theoretischen Diskussionen hinzuweisen,<br />

die Heißenbüttel in der Auseinandersetzung auf<br />

dem Gebiet von »literature & science« zu den<br />

Thesen C. P. Snows (1905–1980) entwickelte,<br />

über die sich herausbildenden zwei Kulturen der<br />

von links nach rechts:<br />

Helmut Heißenbüttel<br />

(5. von links) beim Bielefelder<br />

Colloquium, 1997.<br />

Literaturhaus <strong>Berlin</strong><br />

Helmut Heißenbüttel,<br />

Fotografie aus dem Nachlass.<br />

Stiftung Archiv der Akademie<br />

der Künste, <strong>Berlin</strong> 2006<br />

Helmut Heißenbüttel, Selbstporträt<br />

aus dem Nachlass<br />

Helmut Heißenbüttel. Stiftung<br />

Archiv der Akademie der<br />

Künste, <strong>Berlin</strong><br />

Vergangenheit und Erinnerung. Für den Lyriker<br />

Ernst Jandl (1925–2000, mj 2/2011) stellte deshalb<br />

diese Poesie-Prosa-Mischform das »vielleicht<br />

schönste deutsche Jagdgedicht« dar:<br />

»Verfolger verfolgen die Verfolgten. Verfolgte aber<br />

werden Verfolger. Und weil Verfolgte Verfolger<br />

werden werden aus Verfolgten verfolgende Verfolgte<br />

und aus Verfolgern verfolgte Verfolger. Aus<br />

verfolgten Verfolgern aber werden wiederum Verfolger<br />

[verfolgende verfolgte Verfolger]. Und aus<br />

verfolgenden Verfolgten werden wiederum Verfolgte<br />

[verfolgte verfolgende Verfolgte]. Machen<br />

Verfolger Verfolgte. Machen verfolgende Verfolgte<br />

verfolgte Verfolger. Machen verfolgende verfolgte<br />

Verfolger verfolgte verfolgende Vervolgte.<br />

Und so ad infinitum. […]<br />

Als Verfolger des Verfolgens in Verfolgern wie Nichtverfolgern<br />

werden sie verfolgt von Verfolgern wie<br />

Verfolgten. Als Verfolger des Nichtverfolgens des<br />

Verfolgens werden sie verfolgt von Nichtverfolgern<br />

wie Nichtverfolgten. Verfolger des Verfolgens und<br />

Nichtverfolgens wären sie die eigentlich Verfolgten.<br />

Nicht verfolgende Verfolgte und verfolgte Verfolger.<br />

Sondern Verfolger und Verfolgte zugleich.«<br />

Auch seine »Kalkulation über was alle gewußt<br />

haben« stellt die Wörter Wissen, Mitwissen, Mitmach[er],<br />

Mittäter heraus. Diese Alltagsphrasen<br />

spiegeln ein latentes, verdrängendes Täterbewusstsein.<br />

Nahezu zwangsläufig reagiert der kritische<br />

und emanzipierte Rezipient darauf mit<br />

einem kritischen Bewusstsein.<br />

Natur- und Geisteswissenschaften. Sein Anliegen,<br />

Kunst und Wissenschaften anzunähern und<br />

als »vergleichbare Tätigkeiten« aufzufassen, war<br />

in seiner gesamtkünstlerischen Poetik ein weiteres<br />

der zahlreichen, von ihm maßgeblich<br />

selbst entdeckten Themenfelder.<br />

Die Ausstellung im Literaturhaus <strong>Berlin</strong> widmet<br />

sich den reichhaltigen Aspekten des experimentellen<br />

Werks und Wirkens Helmut Heißenbüttels<br />

im bundesrepublikanischen, neoavantgardistischen<br />

Kontext.<br />

Johanna Bohley und Lutz Dittrich<br />

Dr. Jonanna Bohley ist Literaturwissenschaftlerin und<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU <strong>Berlin</strong>.<br />

Lutz Dittrich ist Projektleiter beim Literaturhaus <strong>Berlin</strong>.<br />

Beide konzipieren die Reihe »Experimentelle Werke«,<br />

in der seit 2011 vier Ausstellungen zu Franz Mon, der<br />

Neoavantgarde um 1960, zu Bohumila Grögerová und<br />

schließlich zu Helmut Heißenbüttel gezeigt wurden.<br />

M U S E U M S J O U R N A L 4 / 2 0 1 2 | 8 7

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