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Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...

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Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit<br />

anführt <strong>und</strong> die noch heute in der Diskussion um Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit<br />

nachklingen:<br />

Erstens die Feststellung, daß ein schriftlicher Text stumm ist, daß er den Leser, der<br />

über eine ihm nicht verständliche Stelle Auskunft haben möchte, im Stich läßt.<br />

Damit hängt zweitens zusammen, daß die Wahrheit sich nach Platons Vorstellung<br />

nicht auf eine einfache Aussage reduzieren läßt, die in eine einzige Satzfolge gefaßt werden<br />

kann. Er hält die Wahrheit für dialektisch, das heißt nur im Gespräch – in Rede<br />

<strong>und</strong> Gegenrede – erreichbar. Die Schrift schließt jedoch die Gegenrede aus. Daher ist<br />

ihre Wahrheit Scheinwahrheit. Wir finden dieses Argument auch in der Mitte des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts wieder, wenn auch in leicht abgewandelter Form.<br />

Und drittens die These, daß die schriftliche Tradition zu einer Vielwisserei führe,<br />

während sich die mündliche Tradition auf das Wesentliche beschränke. Auch dieses<br />

Argument ist in die abendländische Literatur eingegangen.<br />

Wie Platon sich diese mündliche Tradition vorstellt, hat er in seinem Werk Die Gesetze<br />

ausgeführt, in dem er die Kreter lobt, daß sie keine Schrift besitzen. Sie hätten sie nicht<br />

nötig, da sie ihre Riten, Mythen <strong>und</strong> Gesetze in Versmaßen abgefaßt hätten, die leicht zu<br />

behalten seien.<br />

Mit dieser Aussage sind wir bereits in der aktuellen Diskussion um das Verhältnis<br />

von Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit, oder wie dies im modernen Fachjargon heißt, von<br />

Literalität* <strong>und</strong> Oralität*.<br />

Der Gegensatz Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit wurde lange Zeit als ein entscheidendes<br />

Unterscheidungskriterium für den <strong>Kultur</strong>zustand eines Volkes angesehen. Es<br />

zog die Grenze zwischen den <strong>Kultur</strong>völkern, die eine Schrifttradition besitzen, <strong>und</strong> den<br />

sogenannten Primitivvölkern ohne Schrift. Sowohl die Soziologie als auch die Ethnologie*<br />

haben die Existenz der Schrift zum Gr<strong>und</strong>kriterium für die <strong>Kultur</strong> gemacht, wobei<br />

unterstellt wurde, daß die schriftlosen Völker auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe<br />

stünden <strong>und</strong> durch Übernahme einer Schrift zu einer höheren kulturellen Stufe aufsteigen<br />

müßten.<br />

Ein erster Anstoß zu einer Neubewertung schriftloser <strong>Kultur</strong>en ging von einer<br />

linguistischen Untersuchung der Dichtungen Homers aus, die der englische Altphilologe<br />

Hilman Parry 1928 veröffentlicht hat. Er glaubte aufgr<strong>und</strong> der speziellen Struktur<br />

dieser Epen annehmen zu können, daß diese Werke in den ersten Jahrh<strong>und</strong>erten ihres<br />

Bestehens nicht aufgezeichnet, sondern nur mündlich überliefert wurden. Dabei handelt<br />

es sich bei den beiden Homerischen Epen jeweils um Texte mit mehreren tausend Versen.<br />

Parry stützt seine These auf die Beobachtung, daß in den Epen einige feste Formulierungen<br />

immer wiederkehren, die er als typische Gedankenstützen in einer mündlichen<br />

Überlieferung interpretiert. Inwieweit diese Annahme richtig ist, bleibt auch heute<br />

noch unter den Fachleuten umstritten. Daß derartige stereotype Wendungen auf mündliche<br />

Traditionen hinweisen, haben Ethnologen* in den sechziger Jahren dieses Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

an mündlich überlieferter Literatur in Serbien belegen können. Doch gibt es auch Gegenbeispiele,<br />

zum Beispiel in der spätbabylonischen Literatur. Der Verfasser des Erra-Epos,<br />

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