Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...
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Günther Pflug<br />
ein Zeitgenosse Homers, der sich selbst als der Schreiber dieses Werks bezeichnet, verwendet<br />
dennoch eine Fülle stereotyper Wendungen. Daß im ersten Jahrtausend die literarische<br />
Tradition in Mesopotamien nicht mehr oral war, unterliegt jedoch keinem Zweifel.<br />
Hier wirken <strong>of</strong>fensichtlich ältere Erzählvorbilder aus der mündlichen Tradition stilbildend<br />
nach.<br />
Unabhängig von der Frage, ob die These von Parry aufrechterhalten werden kann, hat<br />
sie die Diskussion um das Verhältnis von Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit in der zweiten<br />
Hälfte dieses Jahrh<strong>und</strong>erts nachhaltig beeinflußt.<br />
Vor allem amerikanische Ethnologen haben an einer Fülle von Indianerdokumenten<br />
zeigen können, daß es auch bei schriftlosen Völkern hochentwickelte <strong>Kultur</strong>en der Informationsübermittlung<br />
gibt. Diese Erkenntnisse werden durch Untersuchungen im afrikanischen<br />
Raum bestätigt. Allerdings ist es schwierig, heute noch rein orale Gesellschaften<br />
auf der Erde zu finden. Daher muß sich die Forschung meist mit historischen Phänomenen<br />
beschäftigen, die einen gewissen Rückschluß auf den vorliteralen Zustand der Gesellschaft<br />
erlauben.<br />
Es war nämlich eine erste ethnologische Erkenntnis, daß die meisten oralen <strong>Kultur</strong>en<br />
in den letzten Jahrh<strong>und</strong>erten durch literale <strong>Kultur</strong>en beeinflußt worden sind. In der<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte alten Wirtschafts- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>übertragung – vor allem durch die großen<br />
Weltreligionen des Buddhismus, des Christentums <strong>und</strong> des Islam – sind zahlreiche Völker<br />
mit Schriftkulturen in Verbindung gekommen, ohne damit jedoch bereits selbst eine eigene<br />
Schriftkultur zu entwickeln. Diese Übernahme von Schrift vollzog sich in der Regel<br />
in einer Reihe von Schritten, wobei zahlreiche Völker auf einer bestimmten Stufe stehen<br />
blieben, ohne zu einer umfassenden Schriftlichkeit zu gelangen. Das führt gelegentlich<br />
dazu, daß Schrifttraditionen auch wieder aufgegeben werden, w<strong>of</strong>ür ich noch einige Beispiele<br />
nennen werde.<br />
Angesichts solch unterschiedlicher Entwicklungen fragen sich Ethnologen, Soziologen<br />
<strong>und</strong> Anthropologen heute, welche Gründe wohl dazu geführt haben, daß ein Volk seine<br />
orale Tradition aufgibt, <strong>und</strong> welche Konsequenzen sich daraus für diese Gesellschaft<br />
ergeben.<br />
Bei der Beantwortung dieser Frage muß zuerst einmal festgestellt werden, daß sich die<br />
Schrift bei den einzelnen Völkern auf sehr unterschiedlichen Gebieten entwickelt hat, z.B.<br />
in der Verwaltung ökonomischer Güter in der frühen sumerischen <strong>Kultur</strong> in Mesopotamien,<br />
in der Religion einschließlich ihrer numinosen Begleiterscheinungen wie der Magie<br />
<strong>und</strong> dem Aberglauben im gesamten vorderen Orient einschließlich des ägyptischen Raumes,<br />
im Recht nicht nur in Ägypten <strong>und</strong> in Babylonien, sondern auch im jüdischen Palästina<br />
<strong>und</strong> der Geschichtsschreibung vor allem in der Form annalistischer Herrscherlisten,<br />
die sich etwa für Ägypten wie für China als frühe Dokumente nachweisen lassen. Schon<br />
diese Beispiele zeigen, daß ein einheitlicher Ursprung der Schrifterfindung nicht<br />
wahrscheinlich ist.<br />
Auch die Übernahme einer Schrift durch andere Völker erfolgt nicht in einer einmal<br />
festgelegten Form, etwa in dem Sinn, in dem die Soziologen früherer Generationen von<br />
der kulturellen Höherentwicklung von der Primitivgesellschaft zur <strong>Kultur</strong>gesellschaft