Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...
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Werner Faulstich<br />
erweist, handelt es sich dabei um einen Religionsfilm: Samson ist Richter bei den jüdischen<br />
Daniten, die von den heidnischen Philistern unter Führung des Sarans unterdrückt<br />
werden <strong>und</strong> sich nach ihrer Freiheit sehnen. Der zweite Blick läßt einen Liebesfilm vermuten:<br />
Samson wendet sich von seiner Verlobten Miriam ab <strong>und</strong> heiratet aus religionspolitischen<br />
Gründen die heidnische Priesterin Semada, deren Schwester Delilah in Samson<br />
verliebt ist. Durch Samsons Schuld kommen Semada <strong>und</strong> ihr Vater um, <strong>und</strong> die mittellose<br />
Delilah schwört bittere Rache. Sie verführt Samson <strong>und</strong> erfährt dabei das Geheimnis seiner<br />
Stärke, nämlich seine langen Haare. Als Miriam wieder auftaucht, wird Delilah eifersüchtig<br />
<strong>und</strong> betäubt Samson, schneidet ihm die Haare ab <strong>und</strong> übergibt ihn seinen Feinden,<br />
die ihn blenden <strong>und</strong> anketten. Delilah erfährt von seiner Blindheit, bereut nun ihre Tat <strong>und</strong><br />
will ihn retten. Er verzeiht zwar Delilah, agiert aber dann als Führer der Daniten <strong>und</strong> reißt<br />
die Säulen des heidnischen Tempels ein. Dabei ums Leben kommen er selbst (weil er die<br />
„wahre” Liebe Miriams verschmähte), Delilah (weil sie ihn verraten hat) <strong>und</strong> alle Philister<br />
(weil sie eben ungläubig sind).<br />
Tatsächlich ist SAMSON UND DELILAH weder ein Religions- noch ein Liebesfilm, obwohl<br />
„Religion” <strong>und</strong> „Liebe” – charakteristisch für die damalige Nachkriegszeit – zwei<br />
zentrale Werte darstellen. Zentrales Thema ist vielmehr das Erwachsenwerden, das mit<br />
der Figur Samson ausgeführt wird <strong>und</strong> den Film auch handlungsstrukturell prägt: die<br />
Entwicklung vom infantilen, ichschwachen, fremdgesteuerten zum reifen, selbständigen,<br />
eigenverantwortlichen Menschen. Samson ist mit 459 Einstellungen (51,2% aller Einstellungen)<br />
klare Hauptfigur des Films, <strong>und</strong> seine innere Entwicklung macht die Message des<br />
Films aus: Zwar wird er als Mann von „Größe <strong>und</strong> Schwäche, Kraft <strong>und</strong> Gnadentum”<br />
eingeführt, zeigt sich aber zunächst als übermütiger großer Junge, der die verbotene<br />
Frucht einer Philisterfrau der treu ergebenen jüdischen Verlobten vorzieht. Vertrauensselig<br />
<strong>und</strong> treuherzig wechselt er quasi die Fronten <strong>und</strong> mißachtet den Auftrag seines Gottes.<br />
Dafür wird er einer Reihe von Prüfungen <strong>und</strong> Versuchungen ausgesetzt, die ihn schrittweise<br />
reifen lassen. Der Umschwung erfolgt, als er auf der Flucht ist, alles verloren hat<br />
<strong>und</strong> nun die Unterstützung seines Gottes erfährt. Am Ende überwindet er seine Ich-<br />
Bezogenheit <strong>und</strong> Ich-Schwäche <strong>und</strong> findet sich selbst.<br />
Alle anderen Charaktere <strong>und</strong> auch Delilah sind dieser Figurenentwicklung zugeordnet.<br />
Miriam markiert als die ideale, gläubige, mutige, hübsche, treue Frau den einen Extrem-<br />
punkt der Skala, Semada als die ganz <strong>und</strong> gar von gesellschaftlichen Konventionen abhängige<br />
kokette, selbstsüchtige, eitle Frau den anderen. Delilah als zweitwichtigste Person<br />
(in 327 Einstellungen = 36,5 % präsent) macht eine ähnliche Entwicklung durch wie Samson:<br />
vom „halben Kind” <strong>und</strong> der selbstsüchtigen Frau am Anfang (in bunter, einfacher<br />
Kleidung) über die Intrigantin, triebhafte Verführerin <strong>und</strong> Verräterin (in weißen, kostbaren<br />
Luxus-Gewändern) bis hin zur Einsicht in ihre Schuld (im schwarzen Umhang mit<br />
klosterähnlicher Kapuze). Ebenso wie Samson findet sie gleichsam zu ihrer Bestimmung:<br />
Samson erhält von seinem Gott seine Stärke zurück <strong>und</strong> kann sein Volk befreien, Delilah<br />
ist auf spiritueller Ebene in jener „wahren” Liebe vereint, die sie am Schluß für Samson<br />
empfinden kann. Daß beide tragischerweise den Tod dabei finden, macht den Tatbestand,<br />
daß beide ihr Ziel der Persönlichkeitsreifung <strong>und</strong> Selbstfindung erreicht haben, für das<br />
Publikum der deutschen Nachkriegszeit um so glaubwürdiger.