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Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...

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Günther Pflug<br />

struktur. Sie binden den einzelnen eng in ein allgemeines rituelles Gefüge ein. Bei Übergang<br />

zur Literalität jedoch entsteht ein ausgesprochenes Individualbewußtsein, das in<br />

seiner Konsequenz zur Entwicklung von schriftlich fixierten ethischen Normen führt. Was<br />

hier Ursache, <strong>und</strong> was Wirkung ist, läßt sich nicht allgemein feststellen. Im antiken Griechenland<br />

liegen die Begründungsverhältnisse sicherlich anders als bei afrikanischen Völkern,<br />

die kolonisiert wurden. Hier hat sich der alte Sozialverband sicherlich unter äußerem<br />

Einfluß aufgelöst, <strong>und</strong> die Einführung der Schrift hat dazu nicht unwesentlich beigetragen.<br />

Als typisches Beispiel für diesen Prozeß sei auf die Entwicklung im klassischen<br />

Griechenland verwiesen. Die mündliche Tradition der epischen Dichtung, etwa die Überlieferung<br />

der Homerischen Epen durch die Rhapsoden – selbst in einer Zeit, als es schon<br />

so etwas wie Schrift gab, die jedoch noch nicht zur Aufzeichnung von Literatur genutzt<br />

wurde – fand im 7. Jahrh<strong>und</strong>ert ihr Ende bei den Dichtern, die die epische Tradition des<br />

Heldengesangs zugunsten einer individuell bezogenen Dichtung aufgaben. Hier sei nur<br />

die Lyrikerin Sappho genannt, die an die Stelle des Ruhmes der mythischen Helden ihre<br />

eigene Unsterblichkeit als Dichterin setzt.<br />

Dieser Individualisierungsprozeß führte in Griechenland seit dem 7. Jahrh<strong>und</strong>ert zu<br />

einer schriftlichen Fixierung von Normen <strong>und</strong> Gesetzen, für uns noch faßbar in den Namen<br />

der athenischen Politiker Drakon <strong>und</strong> Solon. Doch blieb dieser Literarisierungsprozeß<br />

nicht ohne Probleme, wie z.B. die Antigone zeigt, in der Sophokles das Aufeinanderprallen<br />

der schriftlichen Gesetze mit den mündlich überlieferten Gesetzen darstellt, wobei<br />

er sich eindeutig auf die Seite der mündlichen Tradition stellt. Und auch die Platonische<br />

Aversion der Schrift gegenüber hat in dieser Aporie eine ihrer Quellen.<br />

Der Prozeß der Individualisierung scheint nun auch für Platon nicht mehr aufhaltbar<br />

zu sein. Doch will er daraus nicht die Konsequenz einer allgemeinen Verschriftlichung<br />

ziehen, sondern an die Stelle eines allgemein verbindlichen Moralverhaltens eine Ethik<br />

setzen, die im Gespräch innerhalb einer Gruppe entsteht. Wir werden mit diesem Beispiel<br />

an die Entwicklung der Ethiktheorie in unserer Zeit erinnert, die ebenfalls von der literalen<br />

Rechtsnorm abgeht <strong>und</strong> eine Ethik auf der Basis des Diskurses begründen will.<br />

Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie sich in unserer Gesellschaft Schriftlichkeit<br />

<strong>und</strong> Mündlichkeit zueinander verhalten. Die einfache These, daß unsere Gesellschaft<br />

eine literale sei, in der nur das schriftlich Formulierte die <strong>Kultur</strong> begründet, greift<br />

sicherlich zu kurz. Neben der Schriftlichkeit, die wohl weite Felder unseres Lebens<br />

beherrscht, gibt es auch heute noch breite Bereiche, die nach wie vor von der Mündlichkeit<br />

bestimmt werden.<br />

Lassen Sie mich vier Bereiche anführen, in denen die Mündlichkeit ihren Platz<br />

bewahrt hat: das Recht, die Wissenschaft, die Literatur <strong>und</strong> die Kommunikation.<br />

Daneben gibt es natürlich noch zahlreiche weitere Felder, in denen die Mündlichkeit vorherrscht,<br />

zum Beispiel die Pädagogik einschließlich der Universitätsvorlesung oder im<br />

religiösen Raum die Predigt. Hier seien jedoch Gebiete ausgewählt, in denen die Spannung<br />

– aus unterschiedlichen Gründen – besonders zutage tritt.<br />

Beginnen wir mit dem hochentwickelten <strong>und</strong> in seiner Gr<strong>und</strong>struktur seit mehreren<br />

h<strong>und</strong>ert Jahren literal bestimmten <strong>Kultur</strong>bereich des Rechts. Betrachtet man den Über-

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