Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...
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Schriftlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit<br />
Zum einen sei auf das Märchen verwiesen. In den letzten Jahrh<strong>und</strong>erten wurde diese<br />
ursprünglich mündlich überlieferte Literaturform von Märchenforschern <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>lern<br />
schriftlich fixiert <strong>und</strong> auf diese Weise tradiert. Vor allem seit der Romantik wurden in<br />
Deutschland die Märchen aufgezeichnet. Was jedoch wurde bei diesem Prozeß gewonnen,<br />
was ging verloren? Wenn wir die große Märchensammlung der Brüder Grimm betrachten,<br />
so stellen wir zunächst fest, daß sie unter einem speziellen Gesichtspunkt aufgezeichnet<br />
wurde, der sich deutlich in ihrem Titel ausdrückt: „Kinder- <strong>und</strong> Hausmärchen”. Diese<br />
Titelfassung setzt eine bestimmte Erzählsituation voraus, die sich uns als das traditionelle<br />
Bild für die Märchenüberlieferung eingeprägt hat: die Großmutter, die ihren Enkeln Märchen<br />
erzählt, vorliest. In dieser Vorstellung stehen zwei funktionelle Gesichtspunkte im<br />
Vordergr<strong>und</strong>, ein pädagogischer <strong>und</strong> ein unterhaltender. Die Kinder sollten ruhig gehalten<br />
werden; sie wurden in der Familie durch die Großmutter betreut.<br />
Eine derartige Festlegung schränkt jedoch die Funktion, die das Märchen ursprünglich<br />
hatte, erheblich ein. Um sich davon ein Bild zu machen, braucht man nur andere Märchensammlungen<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der Grimmschen Sammlung zu vergleichen,<br />
etwa die wenig bekannte von Wilhelm Busch, die in ihrer drastischen, hocherotischen<br />
Ausdrucksweise sicherlich nicht das geeignete Unterhaltungsmittel für Kinder darstellt.<br />
Was also wurde mit der Aufzeichnung der Märchen gewonnen, was ging verloren?<br />
Man mag unterstellen, daß in dem gesellschaftlichen Wandel im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert mit<br />
seiner Auflösung des traditionellen Familienverbandes, der Verbreitung der allgemeinen<br />
Lesefähigkeit, der Entwicklung des für Kinder bestimmten Bilderbuches mündlich überliefertes<br />
Erzählgut verlorengegangen wäre, wenn Volksk<strong>und</strong>ler es nicht aufgezeichnet<br />
hätten, da es seine soziale Funktion weitgehend verloren hatte. Doch zeigen die Beispiele<br />
auch, daß das mündlich tradierte Märchen eine größere Flexibilität gegenüber seiner<br />
schriftlich fixierten Form besitzt. Der Erzähler kann den Märchenst<strong>of</strong>f jeweils der gegebenen<br />
Erzählsituation anpassen <strong>und</strong> es auf das Niveau <strong>und</strong> den Charakter seiner Zuhörergruppe<br />
ausrichten. Das mündlich überlieferte Märchen besitzt also eine größere Vitalität<br />
als das schriftlich fixierte. So überlieferten die Brüder Grimm eben nur eine einzige Version<br />
aus der Fülle der Möglichkeiten, die nicht alle schriftlich fixiert werden können, da<br />
sie prinzipiell für eine nicht überschaubare Fülle von Erzählsituationen <strong>of</strong>fen sind.<br />
Doch möchte ich bei dem Verhältnis von mündlicher <strong>und</strong> schriftlicher Literaturvermittlung<br />
noch auf ein weiteres Phänomen verweisen. Unsere aktuelle Literatur ist<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich literal, <strong>und</strong> dennoch gibt es auch in ihr eine ausgedehnte orale Komponente,<br />
die sich zudem einer wachsenden Beliebtheit erfreut: die Dichterlesung. Was<br />
veranlaßt Leute, die lesen können, zu einer Dichterlesung zu gehen? Sie möchten, so hört<br />
man als Antwort auf diese Frage, einen unmittelbaren Eindruck von dem Autor gewinnen.<br />
Das scheint auf den ersten Blick wie ein Wiederaufgreifen des alten Platonischen Arguments,<br />
das das wechselseitige Gespräch über den monodischen Text stellt. Doch handelt<br />
es sich hier um etwas anderes. Es geht nämlich gar nicht um ein Gespräch mit dem Autor<br />
zum Austausch von Argumenten, sondern wie bei der Lektüre um eine rezeptive Aufnahme<br />
eines hier nur vorgelesenen Textes, den man natürlich ebensogut selbst hätte lesen<br />
können. Ebensogut? Das ist die Frage. Offensichtlich vermittelt der gesprochene Text<br />
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