Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...
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Joachim Paech<br />
nur eine Ereignisaussage <strong>und</strong> noch keine Erzählung sein, zu der mindestens zwei Sätze<br />
gehören, damit es zu einer narrativen Ereignisfolge kommt: Von einem Zustand 1 über<br />
einen Übergang zu einem Zustand 2 (Vgl. Stempel, 1973, S. 331). Dagegen scheint die<br />
Beschreibung des Handlungsverlaufs in diesem Film dem Schema durchaus zu entsprechen:<br />
Tore werden geöffnet (Anfang, Zustand 1), Arbeiter verlassen die Fabrik (Übergang),<br />
ein Tor wird geschlossen (Zustand 2, die Ruhe eines neuen Gleichgewichts). Tatsächlich<br />
ist die Motivation des erzählten Geschehens als Ereignis nur sehr schwach, dessen Vorhersehbarkeit<br />
vermutlich die Filmaufnahme überhaupt erst ermöglicht hat. Denn „ein Ereignis<br />
wird als das gedacht, was geschehen ist, obwohl möglich war, daß es nicht geschah.<br />
Je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, daß das betreffende Vorkommnis stattfinden kann<br />
[d.h. je mehr Information die Nachricht überträgt], desto höher wird es auf der Skala der<br />
Sujethaftigkeit [Folge erzählter Ereignisse] lokalisiert” (Jurij Lotman, Die Struktur des<br />
künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973. S. 354). In der Perspektive des Fabrikbesitzers<br />
(Lumière), der auch den Film aus seinem Kontor heraus gedreht hat, wird gerade die Geschlossenheit<br />
der Minierzählung betont, was ihre Wiederholbarkeit einschließt (er vertraut<br />
darauf, daß die Arbeiter Tag für Tag zur gleichen Zeit die Fabrik verlassen werden). Im<br />
Titel des Films dagegen drückt sich eine andere (Erzähl-)Perspektive aus, die den Film zu<br />
der Frage öffnet wie: „Was machen die Arbeiter, wenn sie die Fabrik verlassen haben, an<br />
ihrem Feierabend?” <strong>und</strong> die nur durch eine Erzählung beantwortet werden kann, die dem<br />
ersten mindestens einen zweiten Satz (eine weitere Einstellung) hinzufügt.<br />
Es ist also durchaus möglich, daß ein Film mit nur einer Einstellung die Gliederung<br />
des narrativen Minimalschemas realisiert; ein solcher Film kann als (Mini-)Erzählung<br />
gelten, weil gr<strong>und</strong>sätzlich innerhalb einer einzigen Einstellung eine in sich geschlossene<br />
Handlung zu einer kurzen Erzählung abgebildet werden kann. Ganz <strong>of</strong>fensichtlich ist das<br />
in einer der ersten fiktionalen Erzählungen, dem „Arroseur arrosé” von Lumière, der Fall:<br />
Ein Gärtner sprengt den Garten (Zustand 1); ein Junge setzt den Fuß auf den Schlauch <strong>und</strong><br />
unterbricht die Wasserzufuhr; als der Gärtner in den Schlauch sieht, erstaunt, wo das<br />
Wasser bleibt, nimmt der Junge den Fuß vom Schlauch, <strong>und</strong> das Wasser spritzt dem Gärtner<br />
ins Gesicht (das ,Ereignis’ als Übergang von einem Zustand in einen anderen); er erkennt<br />
den Übeltäter <strong>und</strong> verfolgt ihn, um ihn zu verhauen (Zustand 2, Strafe als Folge des<br />
Ereignisses).<br />
„Es handelt sich hier, kein Zweifel, um eine kleinste vollständige Handlung. Man schreitet<br />
fort von einem anfänglichen Zustand des Gleichgewichts (der Gärtner ist friedlich bei der<br />
Arbeit) zu einem Zustand der Störung des Gleichgewichts (der Junge stört die Ruhe des<br />
Gärtners), bis am Ende ein Gleichgewichtszustand wieder hergestellt wird (der Gärtner rächt<br />
sich <strong>und</strong> kann vermutlich seine Arbeit fortsetzen)” (Gaudrault, 1984. S. 64).<br />
Dieser Film ist also bereits eine in sich geschlossene, fiktionale (Mini-)Erzählung. Jede<br />
Einstellung enthält demnach gr<strong>und</strong>sätzlich die Möglichkeit einer Erzählung <strong>und</strong> ist<br />
zugleich Teil der Sequenz einer möglichen Erzählung, die erst durch weitere Einstellungen<br />
gebildet werden muß.