Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft III. - Index of - Eötvös ...
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Die Figurenanalyse<br />
Sehr viel komplexer ist die Figurengestaltung im dritten Filmbeispiel: WENN DIE<br />
GONDELN TRAUER TRAGEN. Der Film nutzt dabei explizit Venedig als die Bühne, auf der<br />
die Handlung mit ihren Handlungsträgern inszeniert wird. Bereits aus der Handlungsanalyse<br />
oben ist deutlich geworden, daß die erzählte Geschichte zuallererst Johns Geschichte<br />
ist. Alle übrigen Figuren sind strategisch in Zuordnung zu ihm inszeniert. Das gilt insbesondere<br />
für die Schwestern Wendy <strong>und</strong> Heather. Dabei handelt es sich um zwei ältere<br />
Schottinnen auf Besuch in Venedig. Als Handlungsversatzstücke dienen sie zunächst<br />
einmal immer wieder als eine Art alkalisches Element, an dem sich der Fortgang des Geschehens<br />
entzündet. Das fortwährende Zusammentreffen Lauras <strong>und</strong> Johns mit ihnen<br />
während des Umschwungs in Phase <strong>III</strong> <strong>und</strong> ihre besondere Rolle auch bei der Detektivgeschichte<br />
in Phase IV können das vielleicht besonders anschaulich belegen. Sodann fungieren<br />
sie aber auch als Kontrastpaar zu Laura <strong>und</strong> John, als komödiantisches Element in<br />
einer <strong>of</strong>fensichtlich traurigen Handlung. Für John sind sie „zwei neurotische alte Weiber”,<br />
für Laura helfen sie, „die Leere um mich herum loszuwerden”. Am wichtigsten an den<br />
Schwestern allerdings ist ihr Paarcharakter. Sie stellen eine untrennbare Einheit von Gegensätzen<br />
dar, von Alltäglichkeit <strong>und</strong> Besonderem. Die altjüngferliche Wendy steht für<br />
die absolute Normalität <strong>und</strong> Trivialität des Durchschnittlichen. Sie legt Wert auf Konventionen,<br />
schwankt zwischen gouvernantenhafter Strenge <strong>und</strong> mütterlicher Sorge für Heather,<br />
ist patent, energisch, auch ein wenig rechthaberisch bis zur Grenze biederlichbornierter<br />
Überheblichkeit. Sie fungiert als Kontrast zu Heather mit ihrem zweiten Gesicht,<br />
die sich nur in ihrer eigenen Welt sicher zu fühlen scheint <strong>und</strong> der Hilfe Wendys<br />
unrettbar bedarf. Damit fungiert sie als Beglaubigung dessen, w<strong>of</strong>ür Heather steht: ein<br />
Medium für Visionen, die sie selbst nicht kontrollieren kann, ein Spannungselement,<br />
gelegentlich unheimlich, stellenweise, bei Großaufnahmen oder Detailaufnahmen der<br />
Augen, sogar etwas gruselig <strong>und</strong> im Verlauf der Detektivgeschichte in Phase IV potentiell<br />
gefährlich (freilich nur aus Johns Perspektive). Die blinde Seherin verweist symbolisch<br />
auf ein „inneres Licht”, im Frühchristentum Ausdruck geistiger Erleuchtung durch die<br />
Heilslehre. Heather selbst sieht ihre Gabe durchaus differenziert, als „ein Fluch <strong>und</strong> eine<br />
Gabe”. Wendy <strong>und</strong> Heather leben in einer Symbiose, die durch den Kontrast das Unheimliche<br />
der hellseherischen Fähigkeiten rhetorisch ins Selbstverständliche wendet. Wendy ist<br />
als Überredungsstrategie angelegt mit dem Ziel, daß wir, die Zuschauer, Heather <strong>und</strong> das<br />
Phänomen einer Blinden, die „sehen” kann, akzeptieren. Wendys Brosche, auf die im<br />
Film mehrmals abgehoben wird, zeigt bezeichnenderweise eine goldfarbene Meerjungfrau<br />
mit Perlen, die Echidna aus der griechischen Mythologie, als Ausdruck für die Doppelnatur<br />
des Menschen.<br />
Sehr viel einfacher angelegt sind dagegen Nebenfiguren wie der Bisch<strong>of</strong> <strong>und</strong> der<br />
Kommissar. Der Bisch<strong>of</strong> fungiert als Personifikation der Kirche, des Kreuzes, des Sakralen,<br />
des Jenseits – <strong>und</strong> damit ebenfalls als Beglaubigung einer zweiten Dimension, denn<br />
auch er hat andeutungsweise das zweite Gesicht. Er dient als Bezugspunkt zur charakterlichen<br />
Ausdifferenzierung von John <strong>und</strong> Laura, die völlig unterschiedlich auf den Bisch<strong>of</strong><br />
reagieren: Für John ist er der Arbeitgeber, der ihm aufgr<strong>und</strong> seines im Gr<strong>und</strong>e doch nur<br />
begrenzten Interesses für die Kirchenrestauration eher unverständlich erscheint; John<br />
erweist sich hier als absolut „normal” <strong>und</strong> „realistisch”, als pragmatisch, ganz im Rahmen<br />
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