Kompendium der Flugmedizin - Luftwaffe
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18 NEUROLOGISCHE UND PSYCHIATRISCHE ASPEKTE DER FLUGMEDIZIN<br />
18.1 Allgemeines<br />
Die Grundfrage, die in <strong>der</strong> klinischen <strong>Flugmedizin</strong>, nicht nur in <strong>der</strong> Neurologie, zu beantworten<br />
ist, lautet: Welches Risiko für die Flugsicherheit besteht, wenn ein Flugzeugführer mit<br />
einer bestimmten Gesundheitsstörung fliegt? Für die flugmedizinische Beurteilung sind somit<br />
Flugsicherheitsaspekte entscheidend; <strong>der</strong> Wille des Probanden, Aspekte <strong>der</strong> Gesundheitsvorsorge<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Früherkennung von Krankheiten sind von untergeordneter Natur. Die Situation<br />
des Fliegerarztes ist somit grundlegend von <strong>der</strong> des behandelnden Arztes verschieden,<br />
auch wenn in nicht seltenen Fällen eine Personalunion besteht. Der Fliegerarzt wird letztendlich<br />
immer im behördlichen Auftrag tätig, unabhängig davon, in welcher Rechtsform er seine<br />
Tätigkeit ausübt. Diese strikte Orientierung an Flugsicherheitsaspekten bringt es mit sich,<br />
dass ein und <strong>der</strong>selbe medizinische Sachverhalt flugmedizinisch mitunter völlig an<strong>der</strong>s beurteilt<br />
werden muss, als dies nach klinisch-kurativen Maßstäben <strong>der</strong> Fall wäre. Angenommen,<br />
im Einzelfall läge die Wahrscheinlichkeit, an einer ernsthaften Gesundheitsstörung, etwa an<br />
einem cerebralen Anfallsleiden o<strong>der</strong> an einer koronaren Herzerkrankung zu leiden, bei 10 %,<br />
so wird man unter klinisch-kurativen Aspekten im Regelfall hierauf keine Entscheidung stützen<br />
und je nach Sachlage weitere Untersuchungen vornehmen, denn immerhin beträgt die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass <strong>der</strong> Betreffende keinen epileptischen Anfall o<strong>der</strong> keinen Herzinfarkt<br />
erleiden wird, mindestens 90 %.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Flugmedizin</strong> sieht dies an<strong>der</strong>s aus: Bei einer <strong>der</strong>artigen Konstellation muss <strong>der</strong> Proband<br />
gegroundet werden, weil das Flugsicherheitsrisiko zu hoch ist. Niemand käme auf die<br />
Idee, sich in ein Flugzeug zu setzen, wenn etwa aus technischen Gründen die Wahrscheinlichkeit<br />
abzustürzen bei 10 % läge. Das weitere Vorgehen ist natürlich in <strong>der</strong> kurativen Medizin<br />
und in <strong>der</strong> <strong>Flugmedizin</strong> gleich: Man muss sich durch geeignete Maßnahmen bemühen,<br />
die Diagnose soweit zu erhärten, dass darauf eine adäquate Entscheidung gestützt werden<br />
kann. Lei<strong>der</strong> sind hier in <strong>der</strong> <strong>Flugmedizin</strong> wesentlich engere Grenzen gesetzt als in <strong>der</strong> kurativen<br />
Medizin, da sich die <strong>Flugmedizin</strong>, wie überhaupt die Arbeitsmedizin, in aller Regel auf<br />
nicht invasive Maßnahmen beschränken muss. Bei <strong>der</strong> militärischen Eignungsbeurteilung<br />
<strong>der</strong> Erstbewerber sind außerdem noch prognostisch-prospektive Aspekte beurteilungsrelevant,<br />
während in <strong>der</strong> zivilen <strong>Flugmedizin</strong> häufig nur <strong>der</strong> aktuelle Querschnittsbefund maßgeblich<br />
ist.<br />
Unglücklicherweise ist das Grenzrisiko für die Flugsicherheit, das nicht überschritten werden<br />
darf, nirgendwo verbindlich definiert o<strong>der</strong> gar kodifiziert. Auf internationaler wissenschaftlicher<br />
Ebene hat sich die sog. „1 %-Regel“ etabliert, die allerdings keinerlei Verbindlichkeit<br />
aufweist. Sie bedeutet, dass die Inzidenz für ein inkapazitierendes Ereignis beim einzelnen<br />
Piloten nicht größer als 1 % im Jahr sein darf. Inkapazitierende Ereignisse sind solche, bei<br />
<strong>der</strong>en Auftreten <strong>der</strong> Flugzeugführer seine Aufgaben nicht mehr ausführen kann: Bewusstseinsstörungen,<br />
epileptische Anfälle, Synkopen, Stenokardien, aber auch bereits starke Übelkeit,<br />
Schwindel o<strong>der</strong> Migräneattacken. Bei <strong>der</strong> üblichen jährlichen Untersuchung muss <strong>der</strong><br />
Fliegerarzt also zu <strong>der</strong> Überzeugung gelangen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass <strong>der</strong> individuelle<br />
Pilot im nächsten Jahr einen <strong>der</strong>artigen Zustand erleben könnte, niedriger als 1 % ist.<br />
Es muss hervorgehoben werden, dass die 1 %-Regel für die Bedingungen <strong>der</strong> zivilen Linienfliegerei<br />
konzipiert wurde. Man ging dabei von dem üblichen Flugprofil mit im Vergleich zur<br />
Gesamtflugdauer kurzer Start- und Landephase und von <strong>der</strong> Anwesenheit eines Co-Piloten<br />
aus. Fliegt <strong>der</strong> Flugzeugführer alleine, sind strengere Maßstäbe anzulegen.<br />
<strong>Kompendium</strong> <strong>der</strong> <strong>Flugmedizin</strong> Kap. 18 – Neurologische und Psychiatrische Aspekte <strong>der</strong> <strong>Flugmedizin</strong> 18-247