Gewaltbericht - Kurzfassung - BMWA
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I. GEWALT IN DER FAMILIE – GRUNDLAGEN<br />
1. DEFINITIONEN VON GEWALT<br />
1. 1. Der Gewaltbegriff in der Wissenschaft<br />
und im internationalen Recht<br />
„Gewalt“ ist ein Begriff, der in unserer Sprache sehr<br />
häufig verwendet wird. Wie aber definieren wir<br />
Gewalt? Gibt es ein allgemein gültiges Verständnis,<br />
das diesem Ausdruck zu Grunde liegt? Wenn wir<br />
von Gewalt in der Familie sprechen, meinen wir<br />
dann Ohrfeigen, verbale Drohungen, abfällige<br />
Bemerkungen? Oder fängt Gewalt in der Familie erst<br />
da an, wo es zu sexuellem Missbrauch und<br />
schwerer Körperverletzung kommt?<br />
Geht man der etymologischen Bedeutung des<br />
Begriffs Gewalt nach, so lässt sich die indoeuropäische<br />
Wurzel mit „stark sein, beherrschen“<br />
übersetzen. Im Althochdeutschen meint „waltan“<br />
bereits konkret das spezifische Merkmal eines<br />
Herrschenden.<br />
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird der<br />
Standpunkt vertreten, dass es, je nach gesellschaftlichem,<br />
politischem und teils auch subjektivem Blickwinkel<br />
verschiedene Definitionen von Gewalt gibt.<br />
Der schwedische Friedensforscher Galtung sorgte<br />
1975 für die bis heute gültige umfangreichste<br />
Begriffsklärung:<br />
„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst<br />
werden, dass ihre aktuelle somatische und<br />
geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle<br />
Verwirklichung ... Gewalt ist das, was den<br />
Abstand zwischen dem Potenziellen und dem<br />
Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses<br />
Abstandes erschwert.“ 1<br />
Galtung hat auch die für die Diskussion über Gewalt<br />
in der Familie wesentliche Unterscheidung zwischen<br />
personeller und struktureller Gewalt eingeführt.<br />
Personelle Gewalt meint Gewalt zwischen zwei<br />
Menschen. Strukturelle Gewalt weist auf ungleiche<br />
Verhältnisse hin, die Menschen in ihrer Entwicklung<br />
behindern oder sogar bedrohen.<br />
Aus diesem kurzen Abriss wird bereits deutlich, dass<br />
kein allgemein gültiger Gewaltbegriff existiert.<br />
9<br />
Der Schweizer Gewaltforscher Alberto Godenzi<br />
erklärt das Fehlen eines einheitlichen Gewaltbegriffes<br />
in der Wissenschaft damit, dass Gewalt in<br />
erster Linie politisch definiert wird:<br />
„Wer welche Handlung, welches Ereignis, welche<br />
Institution als gewalttätig definiert, hängt entscheidend<br />
vom sozialen Ort der evaluierenden<br />
Person ab. Gewaltdefinitionen sind Werturteile,<br />
auch dann, wenn die Forschenden die<br />
Bestimmung und den Bedeutungszusammenhang<br />
der Gewalt den unmittelbar beteiligten Personen<br />
überlassen.“ 2<br />
Er empfiehlt daher, in wissenschaftlichen Arbeiten<br />
die jeweils zu Grunde liegende Gewaltdefinition<br />
offen zu legen und damit die RezipientInnen in ihrer<br />
Meinungsbildung zu unterstützen.<br />
1. 2. Gewalt in der Familie/im sozialen<br />
Nahraum<br />
Nicht nur für den Begriff „Gewalt“ existiert keine allgemein<br />
gültige Definition, auch „Familie“ wird je<br />
nach gesellschaftlichem Hintergrund unterschiedlich<br />
definiert. Dennoch suggeriert die häufige Verwendung<br />
dieses Terminus, es gäbe einen einheitlichen<br />
Familienbegriff. Godenzi plädiert daher für eine<br />
Änderung der Begrifflichkeit und schlägt die Formulierung<br />
„Gewalt in Familien“ vor. Er selbst bevorzugt<br />
den Ausdruck „Gewalt im sozialen Nahraum“,<br />
wobei unter „sozialem Nahraum“ all jene Personen<br />
zu verstehen sind, die in engen/intimen Beziehungen<br />
zusammen leben. Dieser Begriff berücksichtigt<br />
also neben verwandtschaftlichen und ehelichen<br />
Beziehungen auch Wohn- und Hausgemeinschaften<br />
sowie gleichgeschlechtliche Beziehungen.<br />
Feministische Forscherinnen kritisieren am Begriff<br />
„Gewalt in der Familie/im sozialen Nahraum“, dass<br />
nicht ersichtlich ist, wer Täter (Täterin) ist. Sie<br />
plädieren für die Verwendung der Formulierungen:<br />
„männliche Gewalt an Frauen in der Familie“ oder<br />
„Gewalt an Frauen durch ihre Partner“.<br />
1. 3. Gewalt gegen Frauen und Mädchen<br />
Im Rahmen der Diskussion des Problems Gewalt<br />
gegen Frauen und Mädchen herrscht weitgehend<br />
1 Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9.<br />
2 Godenzi, A.: Gewalt im sozialen Nahraum, Basel/Frankfurt am Main 1994, S. 34.