2007 Dissertation_Christanell.pdf
2007 Dissertation_Christanell.pdf
2007 Dissertation_Christanell.pdf
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wie bereits dargelegt, wurde von einigen der bedeutendsten VertreterInnen der Sozial-<br />
und Kulturanthropologie die Auffassung vertreten, dass die menschliche Umwelt kulturell<br />
(oder durch Sprache) konstruiert ist.<br />
Der Umweltanthropologe Tim Ingold kritisiert an dieser Auffassung – auf Mary Douglas’<br />
Zitat von oben Bezug nehmend –, dass Umwelt auf eine Masse von Stimuli, die einen<br />
„chaotischen Fluss von Sinneseindrücken“ auslöst, reduziert wird (Ingold 1992, 46). Die<br />
Informationen, die aus den Sinneseindrücken entschlüsselt werden, seien demnach zu<br />
„verkümmert“ und reichen in sich selbst nicht aus, um Objekte und Vorgänge, welche die<br />
Subjekte in ihrer Umwelt wahrnehmen, klar erkennen und erfassen zu können.<br />
Alles Wissen über die Umwelt müsse folglich aus diesen fragmentarischen Daten, die wir<br />
über unsere Sinne empfangen, abgeleitet bzw. rekonstruiert werden. Die Sinneseindrücke<br />
seien das ‚Rohmaterial’ bzw. der ‚Input’ für die kognitiven Schemata, die ihren Sitz im<br />
Kopf des Wahrnehmenden und nicht in der Außenwelt haben (Ingold 1992, 46-47).<br />
Ingolds Auffassung von Umwelt und Wahrnehmung steht jedoch in direkter Opposition zu<br />
diesen Annahmen.<br />
Ingold kritisiert auch Leachs Darlegungen zur Funktion von Sprache. Sprache – so Ingold<br />
– ist weder a priori für das Generieren interner Wahrnehmung unserer Umwelt notwendig,<br />
noch ist es notwendig, dass Wahrnehmung mit anderen Personen geteilt wird (ebd.). D. h.<br />
das Zuordnen von Wahrnehmungen in Systeme kultureller Repräsentationen bzw. das<br />
Kodieren dieser in Sprache ist nicht Grundbedingung dafür, dass wir die Welt, in der wir<br />
leben, verstehen (Ingold 1992, 45) 29 .<br />
Es soll durch die Gegenposition Ingolds nicht der Anschein erweckt werden, dass für<br />
Ingold Sprache und Kultur keine Bedeutung haben, dies zeigt sich im folgenden<br />
Statement von Ingold:<br />
„Language and symbolic thought are not necessary for us to know the world, but are<br />
needed to make such knowledge explicit.” (Ingold 1992, 52)<br />
Ingold leugnet also keineswegs die Bedeutung von Sprache und Kultur für das Teilen von<br />
Wissen (knowledge-sharing). Sein Standpunkt ist – und darin unterscheidet er sich vom<br />
kognitivistischen Ansatz –, dass die diskursive Repräsentation von Umwelt in kulturellen<br />
(Anm. oder sprachlichen) Kategorien nicht die Vorbedingung für unseren Kontakt mit ihr<br />
ist. Sie ist nach Ingold (ebd.) weder Vorbedingung für Produktion und Konsumation, noch<br />
für unseren Kontakt mit anderen Personen im sozialen Leben.<br />
Die kulturelle Konstruktion von Umwelt ist nicht so sehr ein Präludium (Auftakt) zur<br />
praktischen Aktion, sondern ein (optionaler) Epilog (ebd.).<br />
Wodurch unterscheidet sich nun aber der Mensch von Tieren, wenn nicht durch seine<br />
Wahrnehmung von Umwelt über kulturelle Schemata? Die Unterscheidung liegt laut<br />
Ingold in den menschlichen Fähigkeiten, Selbstbewusstsein zu entwickeln und uns selbst<br />
zu interpretieren. Wir können die Umwelt sowie unsere Handlungen in ihr beschreiben.<br />
Zugleich können wir aber auch aus ihr (der Umwelt) heraustreten und uns in die Rolle des<br />
bloßen Beobachters stellen. Nur dann, wenn Distanz imaginiert wird, wird Umwelt zu einer<br />
29 Die Vorstellung, dass wir über die Wörter, die von einer Person verwendet werden, einen direkten Zugang zu deren<br />
kognitiven Konzepten haben, kann aus mehreren Gründen widerlegt werden. Eine Reihe dieser Gründe finden sich im<br />
wissenschaftlichen Paper „Language, Anthropology and Cognitive Science“ von Maurice Bloch (1991).<br />
36