2007 Dissertation_Christanell.pdf
2007 Dissertation_Christanell.pdf
2007 Dissertation_Christanell.pdf
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
eine Situation ohne Emotionen erfahren wurde. Ort, Zeit und Umgebung sind aber nicht<br />
nur bedeutsam für das Erleben, sie können auch Erinnerung wachrufen. So sind<br />
Erinnerungen nicht nur im Kopf verankert, sie können auch an Personen, Orten und<br />
Gegenständen festgemacht werden. Bestimmte Punkte in der Landschaft etwa können<br />
Erinnerungen wachrufen und Wissen so präsent machen (Fentress und Wickham 1992,<br />
93f., 111).<br />
Erinnerungen werden durch nachfolgende Erlebnisse geformt und können sich so<br />
verändern. Das ursprüngliche Geschehen bzw. ursprüngliche Gefühle können in der<br />
Retrospektive andere Züge annehmen und von den Eigentlichen, zum Zeitpunkt des<br />
Erlebten Wahrgenommenen, abweichen. Bei einer Untersuchung in Le Creusot<br />
(Frankreich) etwa stellten Bertaux und Bertaux-Wiame (1985) fest, dass zwei Personen,<br />
die einige Jahres ihres Lebens genau der selben beruflichen Tätigkeit im selben Betrieb<br />
nachgingen, sich allerdings anschließend für unterschiedliche Wege entscheiden, den<br />
rein formellen Ablauf dieser (gemeinsamen) beruflichen Tätigkeit gänzlich unterschiedlich<br />
schilderten. „Aus einer einstmals gleich erlebten Erfahrung formte der nachfolgende<br />
Lebensabschnitt unterschiedliche Erinnerungen, eine andere Wahrnehmung – ein<br />
anderes ‚Gedächtnis’“ (Hervorhebung im Original, Bertaux und Bertaux-Wiame 1985,<br />
151).<br />
Erinnerungen prägen nicht nur die Gegenwart, sie sind auch immer von der Situation, in<br />
der man sich in der Gegenwart gerade befindet, geprägt. Wir erinnern uns vor dem<br />
Hintergrund dessen, was oder wo wir gerade sind, was wir tun, was wir denken, und in<br />
welchem Wechselverhältnis das Erinnerte zur Gegenwart in Beziehung steht. „In the<br />
process of memory, however, the ‚now’ is as important as the ‚then’. Memory is a<br />
relationship between pasts and a particular present” (Clare und Johnson 2000, 199). 34<br />
Zudem werden gerade in der globalisierten Welt Erinnerungen zu einem beträchtlichen<br />
Teil von Medien beeinflusst. Erfahrenes und Erlebtes wird so manches Mal nicht nur mit<br />
Informationen aus den Medien in Verbindung gesetzt, sondern auch durch diese<br />
Informationen geformt und verzerrt (Bertaux und Bertaux-Wiame 1985, 152).<br />
Katharine Hodgkin und Susannah Radstone (2003b, 23f.) gehen davon aus, dass<br />
Erinnerungen daher immer subjektiv, von unterschiedlichen Lebenserfahrungen und -<br />
situationen in der Vergangenheit und Gegenwart abhängig sind, und dadurch ein Teil<br />
individueller Identitäten sind. Wie Nurit Bird-David (2004) mit Tim Ingolds Worten betont,<br />
liegt die Vergangenheit hinter uns und ist per definitionem das, was nicht direkt präsent im<br />
Bewusstsein ist, doch, so Ingold: “(…) as memory it remains very much with us: in our<br />
bodies, in our dispositions and sensibilities, and in our skills of perceptions and actions”<br />
(Ingold 1996, 202 zitiert in Bird-David 2004, 411).<br />
Fentress und Wickham (1992, 7) zufolge sind Erinnerungen jedoch nicht nur durch<br />
individuelle Erfahrungen, sondern auch durch das soziale Gedächtnis („social memory“)<br />
geprägt und finden vor dem Hintergrund sozial manifestierter Erinnerungen statt.<br />
Soziale Erinnerung ist eine Form der Erinnerung, die aus kollektiven Erfahrungen, sowohl<br />
einprägsamen Ereignissen als auch langsamen historischen Veränderungen, generiert<br />
34 Mehr als einmal habe ich mich gefragt, wie meine Untersuchung zu Wetter- und Klimaveränderungen abgelaufen wäre,<br />
hätte sie nicht im kühlen, nassen Sommer 2004 stattgefunden, sondern im heißen trockenen Sommer 2003, und was<br />
passiert wäre, wäre die Untersuchung schon 2002 gewesen. Wie hätte die Wahrnehmung von Wetter- und<br />
Klimaveränderung ausgeschaut, ohne noch ein extremes Jahr wie 2003 erlebt zu haben, wie, wenn man sich mittendrin<br />
befunden hätte? So fanden unsere Gespräche vor dem Hintergrund des zu 2003 so kontrastreichen Sommers 2004 statt.<br />
45