2007 Dissertation_Christanell.pdf
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Welt ohne Bedeutung (von „reality for“ zu „reality of“), die der kulturellen Kategorien<br />
bedarf, um sie wieder mit Bedeutung zu füllen 30 (Ingold 1992, 52-53).<br />
Ingold übt Kritik an der „obsessiven“ Auseinandersetzung mit der Theorie der<br />
Klassifikationssysteme, vor allem an der ihr zugrunde liegenden Annahme, dass wir,<br />
bevor wir Dinge in der Welt nicht klassifiziert haben, nicht in der Lage sind, mit diesen<br />
Dingen zu agieren. 31<br />
Ingold hält dieser Annahme entgegen, dass wir Menschen in den meisten Fällen – ähnlich<br />
den Tieren – auch sehr gut ohne Klassifizierungen auskommen. Um diese Annahme zu<br />
stützen, greift Ingold die Theorie von J. J. Gibson (1979, 1982 zitiert in Ingold 1992, 40)<br />
aus der Ökologischen Psychologie auf. Gibsons Zugang zur Wahrnehmung ist ein<br />
ökologischer, er hat diesen Zugang in expliziter Opposition zum vorherrschenden<br />
Kognitivismus der „mainstream psychology“ gestellt (Ingold 1992, 40).<br />
Nach Gibson bedeutet das Erkennen und Wahrnehmen einer Leistung eines bestimmten<br />
Objekts nicht das Klassifizieren eines Objektes (Gibson 1979, 134 zitiert in Ingold 1992,<br />
47). Was dies bedeutet, veranschaulicht Ingold anhand eines einfachen Beispiels:<br />
Ein Schraubenzieher, der für das Malen eines Bildes benötigt wird, dient zum Beispiel<br />
dem Öffnen eines Dosendeckels oder dem Umrühren von Farbe. Keine dieser Leistungen<br />
hat jedoch irgendwas mit dem Faktum zu tun, dass ich das Objekt einen Schraubenzieher<br />
nenne. Ich könnte das Objekt auch mit einem beliebig anderen Namen benennen. In<br />
diesem praktischen Kontext könnte ein jedes anderes ähnlich aussehendes Objekt<br />
verwendet werden, egal wie und ob es klassifiziert ist (Ingold 1992, 47).<br />
Gibson argumentiert, dass Tiere Objekte in ihrer Umwelt danach wahrnehmen, was diese<br />
Objekte „leisten“, d.h. für welchen Zweck diese Objekte brauchbar sind oder welche<br />
Leistung diese bieten (Gibson 1979, 127 zitiert in Ingold 1992, 42). Nun könnte laut Ingold<br />
eine Antwort auf diese Theorie von anthropologischer Seite sein, dass Menschen sich von<br />
Tieren unterscheiden, indem sie ihre Umwelt nicht nur konstruieren, sondern sie selbst<br />
„Autoren“ ihrer eigenen Projekte von Konstruktion sind. Auch wenn Menschen<br />
unzweifelhaft die Fähigkeit besitzen, ihre Umwelt zuerst zu designen, bevor sie in ihr<br />
agieren, glaubt Ingold jedoch nicht, dass dies die Art und Weise ist, wie Wahrnehmung<br />
normalerweise im alltäglichen Leben funktioniert (Ingold 1992, 41):<br />
„Thus with Gibson, I believe that our immediate perception of the environment is in<br />
terms of what it affords for the pursuit of the action in which we are currently<br />
engaged.“ (Ingold 1992, 44)<br />
30 Seine Theorie der direkten Wahrnehmung wendet Ingold auch auf soziale Beziehungen an. Demnach interagieren wir<br />
nicht indirekt mit anderen Personen über den Filter von sozialen Regeln und Kategorien. Sondern: Wir treten direkt in<br />
Beziehung zu anderen Personen, indem wir die die Möglichkeiten ihrer Leistungen für die Interaktion wahrnehmen bzw.<br />
erkennen (Ingold 1992, 54). Das Anwenden der Theorie der direkten Wahrnehmung auf soziale Beziehungen ist für mich<br />
jedoch nicht ganz stimmig. Es ist meiner Ansicht nach richtig, dass wir für das In-Kontakt-Treten mit anderen Personen<br />
soziale Regeln und Kategorien nicht unbedingt notwendig sind bzw. Vorbedingung sind. Trotzdem denke ich, dass in den<br />
meisten, auch alltäglichen Situationen, sobald ich mit anderen Personen in Kontakt trete, soziale Regeln und Normen eine<br />
zentrale Bedeutung spielen. Ich werde daher nicht mit Ingolds Erweiterung der Theorie der direkten Wahrnehmung auf<br />
gesellschaftliche Beziehungen arbeiten.<br />
31 Ingolds Auslegung bezieht sich im Konkreten auf Darlegungen Roy Ellens (Ellen 1982, 234 zitiert in Ingold 1992, 47), der<br />
sich mit Klassifikationssystemen beschäftigt. Diese Auslegung wird aber durch Ellen selbst einige Jahre später in seinen<br />
einleitenden Worten zu seiner Aufbereitung des Begriff „classification“ in der Enzyklopädie der Sozial- und<br />
Kulturanthropologie von Bernard und Spencer (Ellen 2006, 103-106) relativiert. Darin stellt Ellen fest, dass wir nicht über die<br />
Welt nachdenken können, bevor wir sie nicht Kategorien zugewiesen haben. Kategorien erleichtern uns zudem, in der Welt<br />
zu agieren, allerdings – so räumt Ellen ein – sind sie vermutlich nicht unbedingte Voraussetzung für jegliche Art von Aktivität<br />
(Ellen 2006, 103).<br />
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