Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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– Jede junge Seele hört diesen Zuruf bei<br />
Tag und Nacht und erzittert dabei; denn<br />
sie ahnt ihr seit Ewigkeiten bestimmtes<br />
Maass von Glück, wenn sie an ihre wirkliche<br />
Befreiung denkt: zu welchem Glück,<br />
so lange sie in Ketten der Meinungen und<br />
der Furcht gelegt ist, auf keine Weise verholfen<br />
werden kann.“ (CM 1,338)<br />
An diesem anarchistischen Grün bzw. grünen<br />
Anarchismus in der Philosophie<br />
<strong>Nietzsche</strong>s erkennen wir besonders deutlich,<br />
wie sehr die Nazis als Emporkömmlinge<br />
und Förderer des staatsmonopolistischen<br />
Kapitalismus den Umwerter aller<br />
Werte verfälschen mußten, um ihn in<br />
ihre Staats-Ideologie, mit der Praxis-Maxime<br />
‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘,<br />
eingliedern zu können. (Volk: zu diesem<br />
eben völkischen Idealbegriff verbrämten<br />
die Nazi-Ideologen ihren NS-Staat, ihre<br />
NS-Nation, ihre NS-Wirtschaft, ihr NS-<br />
Vaterland ... – in einer nur religiös zu nennenden<br />
Blut-und-Boden-Mystik.)“ (LL,<br />
S.8)<br />
Ad 2) <strong>Nietzsche</strong> der sinnlich orientierte<br />
Materialist<br />
<strong>Nietzsche</strong> setzte der idealistischen Schlagseite<br />
manches noch so verdienten Aufklärers<br />
einen sinnlichen, einen Leib-Materialismus<br />
entgegen, der seine Verwandtschaft<br />
<strong>zum</strong> Materialismus Feuerbachs nicht verbirgt.<br />
Primär geht es <strong>für</strong> <strong>Nietzsche</strong> nicht<br />
um die zweck-rationale „kleine Vernunft“,<br />
wie sie jedenfalls viele Nur-Rationalisten,<br />
Nur-Freigeister praktizier(t)en, sondern<br />
um die „große Vernunft“. Diese große<br />
Vernunft deckte sich <strong>für</strong> ihn mit seiner<br />
Auffassung vom „Leib als psychophysischem<br />
Gesamthaushalt“. (Knodt selbst,<br />
S.17) Die kleine Vernunft ist nur dann von<br />
wert, wenn sie als Instrument <strong>für</strong> die große<br />
Vernunft dient:<br />
„...Werkzeug deines Leibes ist auch deine<br />
kleine Vernunft, mein Bruder, die du<br />
‘Geist’ nennst, ein kleines Werk- und<br />
Spielzeug deiner großen Vernunft.“ So<br />
heißt es im Zarathustra. (CM 4,39) Die<br />
Ratio, „der Geist“ also ist Werkzeug, das<br />
Werkzeug „des Leibes“ – nicht umgekehrt<br />
der Leib Werkzeug des Geistes, wie es einer<br />
primär-idealistischen Auffassung entspräche!<br />
„Hier weist die Philosophie <strong>Nietzsche</strong>s<br />
entschieden monistische, und zwar sogar<br />
spezifisch materialistische Züge auf – <strong>zum</strong>indest<br />
faktisch, unausgesprochen, im<br />
qualitativen Gestaltungswillen. Und ihn<br />
stellt <strong>Nietzsche</strong> grundsätzlich über das<br />
quantitative Erkenntnisstreben der Naturwissenschaften.<br />
Mit dieser Auffassung<br />
steht er dem sensualistischen, sinnlichen<br />
Materialismus von Ludwig Feuerbach<br />
verblüffend nahe ...“ (LL, S.8) Verkündet<br />
Feuerbach inhaltlich doch ganz ähnlich:<br />
„Einst war mir das Denken Zweck des<br />
Lebens, aber jetzt ist mir das Leben Zweck<br />
des Denkens.“ (LF, S.43)<br />
Die von <strong>Nietzsche</strong> getroffene Unterscheidung<br />
von zweierlei Vernunft erscheint mir,<br />
vor allem <strong>für</strong> die ausschlaggebende<br />
Lebenspraxis, sehr sinnvoll: Aus lauter<br />
zweckrationalistischer, kleinlicher Besorgnis<br />
vor Leiden mißbrauchen die Menschen<br />
tatsächlich oft ihre Ratio, ihre (kleine)<br />
Vernunft, ihren praxisorientierten Geist –<br />
nämlich zur Askese, Einhaltung der herrschenden<br />
ethischen Normen, zur Selbstdisziplinierung<br />
und Pflichterfüllung gegenüber<br />
dem herrschenden Staat. Indem<br />
die Menschen so ihre materiellen, mit den<br />
(anderen) Tieren gemeinsamen Bedürfnisse<br />
weithin nicht mehr befriedigen, untergraben<br />
sie durch ihr derart leib-, lebens-,<br />
100 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000