Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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ten zu treiben, ist es allmählich bis in<br />
das Mark hinein krank geworden, verheuchelt<br />
und verlogen und bis <strong>zum</strong> Widerspruche<br />
mit seinem ursprünglichen<br />
Ziele abgeartet. ...<br />
Da wird drittens die Kultur von allen<br />
denen gefördert, welche sich eines hässlichen<br />
oder langweiligen Inhaltes bewusst<br />
sind und über ihn durch die sogenannte<br />
‘schöne Form’ täuschen wollen.<br />
Mit dem Äusserlichen, mit Wort,<br />
Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit<br />
soll der Beschauer zu einem<br />
falschen Schlusse über den Inhalt genöthigt<br />
werden: in der Voraussetzung,<br />
dass man <strong>für</strong> gewöhnlich das Innere<br />
nach der Aussenseite beurtheilt. Mir<br />
scheint es bisweilen, dass die modernen<br />
Menschen sich grenzenlos an einander<br />
langweilen und dass sie es endlich<br />
nöthig finden, sich mit Hülfe aller Künste<br />
interessant zu machen.“<br />
„Ich nenne viertens die Selbstsucht der<br />
Wissenschaft und das eigenthümliche<br />
Wesen ihrer Diener, der Gelehrten. Die<br />
Wissenschaft verhält sich zur Weisheit,<br />
wie die Tugendhaftigkeit zur Heiligung:<br />
sie ist kalt und trocken, sie hat keine<br />
Liebe und weiss nichts von einem tiefen<br />
Gefühle des Ungenügens und der<br />
Sehnsucht. Sie ist sich selber eben so<br />
nützlich, als sie ihren Dienern schädlich<br />
ist, insofern sie auf dieselben ihren eignen<br />
Charakter überträgt und damit ihre<br />
Menschlichkeit gleichsam verknöchert.<br />
So lange unter Kultur wesentlich Förderung<br />
der Wissenschaft verstanden<br />
wird, geht sie an dem grossen leidenden<br />
Menschen mit unbarmherziger Kälte<br />
vorüber, weil die Wissenschaft überall<br />
nur Probleme der Erkenntniss sieht,<br />
und weil das Leiden eigentlich innerhalb<br />
ihrer Welt etwas Ungehöriges und<br />
Unverständliches, also höchstens wieder<br />
ein Problem ist. ... Soll ich heraussagen,<br />
was ich denke, so lautet mein<br />
Satz: der Gelehrte besteht aus einem<br />
verwickelten Geflecht sehr verschiedener<br />
Antriebe und Reize, er ist durchaus<br />
ein unreines Metall. Man nehme zuvörderst<br />
eine starke und immer höher gesteigerte<br />
Neubegier, die Sucht nach<br />
Abenteuern der Erkenntniss, die fortwährend<br />
anreizende Gewalt des Neuen<br />
und Seltnen im Gegensatze <strong>zum</strong> Alten<br />
und Langweiligen. Dazu füge man einen<br />
gewissen dialektischen Spür- und<br />
Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten<br />
Fuchsgängen des Gedankens,<br />
so dass nicht eigentlich die Wahrheit<br />
gesucht, sondern das Suchen gesucht<br />
wird und der Hauptgenuss im listigen<br />
Herumschleichen, Umzingeln,<br />
kunstmässigen Abtödten besteht. Nun<br />
tritt noch der Trieb <strong>zum</strong> Widerspruch<br />
hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen<br />
entgegen, sich fühlen und fühlen<br />
lassen; der Kampf wird zur Lust und der<br />
persönliche Sieg ist das Ziel, während<br />
der Kampf um die Wahrheit nur der<br />
Vorwand ist. Zu einem guten Theile ist<br />
sodann dem Gelehrten der Trieb beigemischt,<br />
gewisse ‚Wahrheiten‘ zu finden,<br />
nämlich aus Unterthänigkeit gegen gewisse<br />
herrschende Personen, Kasten,<br />
Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil<br />
er fühlt, dass er sich nützt, indem er die<br />
‚Wahrheit‘ auf ihre Seite bringt.“<br />
„Wer ... zu beobachten weiss, bemerkt,<br />
dass der Gelehrte seinem Wesen nach<br />
unfruchtbar ist – eine Folge seiner Entstehung!<br />
– und dass er einen gewissen<br />
natürlichen Hass gegen den fruchtbaren<br />
Menschen hat; weshalb sich zu allen<br />
Zeiten die Genie’s und die Gelehrten<br />
befehdet haben. Die letzteren wollen<br />
118 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000