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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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man gewöhnlich wie in einer trüben<br />

Wolke webt, zu sich zu kommen, aber<br />

ich weiß kein besseres, als sich auf seine<br />

Erzieher und Bildner zu besinnen.<br />

Und so will ich denn heute des einen<br />

Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich<br />

mich zu rühmen habe, eingedenk sein,<br />

Arthur Schopenhauers...“<br />

Anschließend beleuchtet er die seinerzeit<br />

„modernen“ Bildungszustände, deren Kritik<br />

in vielem auch heute noch gültig ist,<br />

um sodann seine Diagnose abzugeben:<br />

„Die Erklärung dieser Mattherzigkeit<br />

und des niedrigen Flutstandes aller sittlichen<br />

Kräfte ist schwer und verwickelt;<br />

doch wird niemand, der den Einfluß des<br />

siegenden Christentums auf die Sittlichkeit<br />

unsrer alten Welt in Betracht nimmt,<br />

auch die Rückwirkung des unterliegenden<br />

Christentums, also sein immer<br />

wahrscheinlicheres Los in unserer Zeit,<br />

übersehen dürfen. Das Christentum hat<br />

durch die Höhe seines Ideals die antiken<br />

Moralsysteme und die in allen<br />

gleichmäßig waltende Natürlichkeit so<br />

überboten, daß man gegen diese Natürlichkeit<br />

stumpf und ekel wurde; hinterdrein<br />

aber, als man das Bessere und<br />

Höhere zwar noch erkannte, aber nicht<br />

mehr vermochte, konnte man <strong>zum</strong> Guten<br />

und Hohen, nämlich zu jener antiken<br />

Tugend, nicht mehr zurück, so sehr<br />

man es auch wollte. In diesem Hin und<br />

Her zwischen Christlich und Antik, zwischen<br />

verschüchterter oder lügnerischer<br />

Christlichkeit der Sitte und ebenfalls<br />

mutlosem und befangenem Antikisieren<br />

lebt der moderne Mensch und befindet<br />

sich schlecht dabei. ...“<br />

„Es heißt also wirklich in seinen Wünschen<br />

ausschweifen, wenn ich mir vorstellte,<br />

ich möchte einen wahren Philosophen<br />

als Erzieher finden, welcher einen<br />

über das Ungenügen, soweit es in<br />

der Zeit liegt, hinausheben könnte und<br />

wieder lehrte, einfach und ehrlich, im<br />

Denken und Leben, also unzeitgemäß<br />

zu sein, das Wort im tiefsten Verstande<br />

genommen; denn die Menschen sind<br />

jetzt so vielfach und kompliziert geworden,<br />

daß sie unehrlich werden müssen,<br />

wenn sie überhaupt reden, Behauptungen<br />

aufstellen und danach handeln wollen.<br />

In solchen Nöten, Bedürfnissen und<br />

Wünschen lernte ich Schopenhauer kennen.“<br />

<strong>Nietzsche</strong> diagnostiziert das Schwanken<br />

des Menschen zwischen seiner Natur und<br />

seiner Kultur, zwischen den unterschiedlichen<br />

Zielsetzungen seiner Empfindungen,<br />

seines Verstandes und seiner Vernunft<br />

– er will aus deren Zwiespalt heraus in<br />

eine neue „Einfachheit“. Diesen Weg aber<br />

kann nur die Philosophie bahnen, und so<br />

wirft er seinen Blick auf die zeitgenössische<br />

Weise des Philosophierens:<br />

„Die ‚Wahrheit‘ aber, von welcher unsre<br />

Professoren so viel reden, scheint freilich<br />

ein anspruchsloseres Wesen zu sein,<br />

von dem keine Unordnung und Ausserordnung<br />

zu be<strong>für</strong>chten ist: ein bequemes<br />

und gemüthliches Geschöpf, welches<br />

allen bestehenden Gewalten wieder<br />

und wieder versichert, niemand solle<br />

ihrethalben irgend welche Umstände<br />

haben; man sei ja nur ‚reine Wissenschaft‘.<br />

Also: ich wollte sagen, dass die<br />

Philosophie in Deutschland es mehr und<br />

mehr zu verlernen hat, ‚reine Wissenschaft‘<br />

zu sein: und das gerade sei das<br />

Beispiel des Menschen Schopenhauer.“<br />

108 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000

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