Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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ins Phantastisch-Häßliche, ins Ungeziemend-Ausschweifende.<br />
Und ich erwartete<br />
von Deiner Seite, einigen Schimpf und<br />
Schmach davonzutragen. Solltest Du aber<br />
<strong>für</strong> Manfred eine wirkliche Art von Neigung<br />
haben, wie Dein Brief gütig genug<br />
war zu versichern, so warne ich Dich ganz<br />
ernsthaft, lieber Freund, vor dieser meiner<br />
schlechten Musik. Laß keinen falschen<br />
Tropfen in Deine Musikempfindung kommen,<br />
am wenigsten aus der barbarisierenden<br />
Sphäre meiner Musik. Ich bin ohne<br />
Illusionen – jetzt wenigstens.<br />
Verlange nur von mir nichts Kritisches –<br />
ich habe keinen guten Geschmack und bin,<br />
in meinen musikal. Kenntnissen, recht<br />
heruntergekommen, kann auch, wie Du<br />
gesehn hast, gar nicht mehr orthographisch<br />
schreiben.– Ich bin jetzt nur soviel<br />
Musiker, als zu meinem philosophischen<br />
Hausgebrauche eben nötig ist.“<br />
Und an Erwin Rohde schrieb er: „Der<br />
Brief Bülows ist <strong>für</strong> mich unschätzbar in<br />
seiner Ehrlichkeit, lies ihn, lache mich aus<br />
und glaube mir, daß ich vor mir selbst in<br />
einen solchen Schrecken geraten bin, um<br />
seitdem kein Klavier anrühren zu können.“<br />
18<br />
Aber er konnte es nicht lassen, und so hat<br />
er auch dem Kapellmeister <strong>Friedrich</strong><br />
Hegar seine Manfred-Meditation noch<br />
1874 zugeschickt. Zur Rücksendung<br />
schrieb ihm dieser: „... ich hoffte immer,<br />
dieselbe persönlich zurückbringen und<br />
Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen zu<br />
können, wie sehr mich vieles interessierte,<br />
namentlich die Art und Weise, wie Sie<br />
der zu Grunde liegenden Stimmung musikalisch<br />
Ausdruck zu geben versuchen.<br />
Freilich fehlt dem ganzen, was die Gestaltung<br />
der musikalischen Ideen anbetrifft,<br />
die Erfüllung gewisser architektonischer<br />
Bedingungen so, daß mir die Komposition<br />
mehr den Eindruck einer stimmungsvollen<br />
Improvisation als eines durchdachten<br />
Kunstwerks macht.“ 19<br />
Daß die Art und Weise dieses musikalischen<br />
Ausdrucks <strong>Nietzsche</strong>s aber auch<br />
noch anders gesehen werden kann, brachte<br />
Fischer-Dieskau in seinem Vortrag anläßlich<br />
des genannten Konzerts 1981 <strong>zum</strong><br />
Ausdruck:<br />
„<strong>Nietzsche</strong>s musikalische Begabung<br />
war jedoch ungeachtet solcher Meinung<br />
außerordentlich. Sie gehörte bestimmend<br />
zu seinem Wesen. So muß seine<br />
kunstpsychologische Analyse analog zu<br />
seinem Musiksinnen und zu seiner<br />
Freude an der Polyphonie gesehen werden.<br />
Sein Drang, in die Abgründe der<br />
Psyche zu leuchten, entspricht dem<br />
Willen eines Musikers, Seelenvorgänge<br />
ans Licht zu bringen, die einzig durch<br />
die Musik darstellbar erscheinen.“<br />
Gerade im Hinblick auf die Manfred-<br />
Komposition und die heftigen Reaktion<br />
von Bülows könnte man einwenden, es<br />
handele sich dabei um die „normale“ Problematik,<br />
daß sich eine bestimmte Neuerung<br />
nicht oder noch nicht gegen eine andere<br />
jeweils sich zur Geltung bringende<br />
Richtung durchsetzen könne; dabei sollte<br />
man sich aber darüber im Klaren sein, daß<br />
sowohl Wagner als auch <strong>Nietzsche</strong> sich<br />
genau dieses Problems sehr wohl bewußt<br />
waren – ist dies doch der Stoff, aus dem<br />
die „Meistersinger“ gemacht sind: Der<br />
Erneuerer Stolzing-Wagner gegen die<br />
Beckmesser-Konservativen und Klassizisten.<br />
<strong>Nietzsche</strong> selbst wäre niemals auf<br />
den Gedanken gekommen, gerade diesen<br />
Einwand <strong>für</strong> seine Kompositionsweise<br />
geltend zu machen; vielmehr war er sich<br />
der Genialität Wagners und des eigenen<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 59