Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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ohne <strong>für</strong> die eigene Geltung <strong>für</strong>chten<br />
zu müssen. 12<br />
<strong>Nietzsche</strong> selbst stand spätestens seit 1874<br />
Wagners Musik kritisch gegenüber, wie<br />
die parallel zur Vierten Unzeitgemäßen<br />
Betrachtung Richard Wagner in Bayreuth<br />
aufgezeichneten Beobachtungen zeigen.<br />
Worin bestand jedoch ganz konkret und<br />
objektiv die Kritik <strong>Nietzsche</strong>s an der<br />
„Wagnerei“? Am besten läßt sich dies vielleicht<br />
aus Briefen 13 ,14 an Carl Fuchs zeigen:<br />
„Das Wagnersche Wort ‚unendliche Melodie‘<br />
drückt die Gefahr, den Verderb des<br />
Instinkts und den guten Glauben, das gute<br />
Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische<br />
Zweideutigkeit, so daß man nicht<br />
mehr weiß und wissen soll, ob etwas<br />
Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen<br />
Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare<br />
Wirkungen erreicht werden können:<br />
der ‚Tristan‘ ist reich daran –, als Symptom<br />
einer ganzen Kunst ist und bleibt sie<br />
trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der<br />
Teil wird Herr über das Ganze, die Phrase<br />
über die Melodie, der Augenblick über die<br />
Zeit (auch das tempo), das Pathos über das<br />
Ethos ... schließlich auch der esprit über<br />
den ‚Sinn‘.“<br />
„Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten<br />
Redeteile der Musik (– ich möchte, Sie ...<br />
wendeten die Worte an, die jeder aus der<br />
Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon,<br />
Komma, je nach der Größe, insgleichen<br />
Fragesatz, Konditionalsatz, Imperativ –<br />
denn die Phrasierungslehre ist schlechterdings<br />
das, was <strong>für</strong> Prosa und Poesie die<br />
Interpunktionslehre ist), – also: wir betrachteten<br />
diese Beseelung und Belebung<br />
der kleinsten Teile, wie sie in der Musik<br />
zur Praxis Wagners gehört und von da aus<br />
zu einem fast herrschenden Vortrags-System<br />
(selbst <strong>für</strong> Schauspieler und Sänger)<br />
geworden, mit verwandten Erscheinungen<br />
in anderen Künsten: es ist ein typisches<br />
Verfalls-Symptom, ein Beweis da<strong>für</strong>, daß<br />
sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen<br />
hat und im Kleinsten luxuriert.<br />
Die ‚Phrasierung‘ wäre demnach die Symptomatik<br />
eines Niedergangs der organisierenden<br />
Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit,<br />
große Verhältnisse noch rhythmisch<br />
zu überspannen – eine Entartungsform<br />
des Rhythmischen [...] In dem Maße,<br />
in dem sich das Auge <strong>für</strong> die rhythmische<br />
Einzelform (‚Phrase‘) einstellt, wird es<br />
myops <strong>für</strong> die weiten, langen, großen Formen:<br />
genau wie in der Architektur des<br />
Berninismus. Eine Veränderung der Optik<br />
des Musikers – die ist überall am Werke:<br />
nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit<br />
des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit<br />
begrenzt sich immer mehr auf<br />
die delikaten kleinen sublimen Dinge ...<br />
folglich macht man nur auch noch solche<br />
– –“<br />
Merkwürdigerweise zieht hier <strong>Nietzsche</strong><br />
nicht den Rückschluß auf sich selbst –<br />
auch er selbst ist in der Prosa ein Meister<br />
der „Phrasierung“, der kleinen Satzteile<br />
und deren Zuschärfung, insbesondere<br />
durch vielfältige Interpunktion – nicht<br />
umsonst lobt er den Aphorismus als seine<br />
ureigene Form! Diese Kritik an Wagner<br />
trifft so nicht zuletzt auch noch auf ihn<br />
selbst zu.<br />
Daß aber diese Kritik an Wagner weder<br />
etwas an der grundsätzlichen Dankbarkeit<br />
Wagner gegenüber noch an seiner Faszination<br />
durch die Wagnersche Musik ändert,<br />
zeigen sein Aphorismus Sternenfreundschaft<br />
in der Fröhlichen Wissenschaft<br />
15 ebenso wie seine wunderbare<br />
Ausdeutung der Meistersinger-Ouvertüre<br />
in Jenseits von Gut und Böse 16 noch im<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 57