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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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Kritik einer Philosophie, die möglich ist<br />

und die auch etwas beweist, nämlich zu<br />

versuchen, ob man nach ihr leben könne,<br />

ist nie auf Universitäten gelehrt worden:<br />

sondern immer die Kritik der Worte<br />

über Worte. Und nun denke man sich<br />

einen jugendlichen Kopf, ohne viel Erfahrung<br />

durch das Leben, in dem fünfzig<br />

Systeme als Worte und fünfzig Kritiken<br />

derselben neben und durch einander<br />

aufbewahrt werden – welche Wüstenei,<br />

welche Verwilderung, welcher<br />

Hohn auf eine Erziehung zur Philosophie!“<br />

Während der Abfassung dieser Philippika<br />

gegen die zeitgenössische Philosophie<br />

schreibt er an Overbeck dazu am 30. Juli<br />

1874: „...ich wenigstens habe einen ganzen<br />

Schirlingsbecher <strong>für</strong> die Philosophieprofessoren<br />

zu Stande gebracht ... süss und<br />

bitter, Arznei und Gift, alles beide je nach<br />

der Person, <strong>für</strong> die er eingegossen wird.“<br />

(Briefwechsel mit F. u. I. Overbeck, hg.<br />

v. K. Meyer u. B.b. Reibnitz, Metzler Verlag<br />

Stuttgart-Weimar 2000, S. 15).<br />

Diesen Argumenten <strong>Nietzsche</strong>s wird man<br />

sich schwerlich entziehen können, wenn<br />

man denn jenes allen Schülern bekannte<br />

Wort gelten lassen würde: „non scolae, sed<br />

vitae discimus.“ Der Verfasser dieser Zeilen<br />

bekennt, daß ihn ein Semester „logische<br />

Propädeutik“ 23 die Flucht vor solcher<br />

Art Fachphilosophie hat ergreifen lassen.<br />

Schon zu <strong>Nietzsche</strong>s Zeiten stand diese<br />

offenbar in einem Ansehen, das sich jedenfalls<br />

in Deutschland weniger verbessert<br />

als noch verschlechtert hat:<br />

„Man gedenke nur an seine eigne Studentenzeit;<br />

<strong>für</strong> mich <strong>zum</strong> Beispiel waren<br />

die akademischen Philosophen ganz<br />

und gar gleichgültige Menschen und<br />

galten mir als Leute, die aus den Ergebnissen<br />

der andern Wissenschaften sich<br />

etwas zusammen rührten, in Mussestunden<br />

Zeitungen lasen und Concerte besuchten,<br />

die übrigens selbst von ihren<br />

akademischen Genossen mit einer artig<br />

maskirten Geringschätzung behandelt<br />

wurden. Man traute ihnen zu, wenig zu<br />

wissen und nie um eine verdunkelnde<br />

Wendung verlegen zu sein, um über diesen<br />

Mangel des Wissens zu täuschen.<br />

Mit Vorliebe hielten sie sich deshalb an<br />

solchen dämmerigen Orten auf, wo es<br />

ein Mensch mit hellen Augen nicht lange<br />

aushält. Der Eine wendete gegen die<br />

Naturwissenschaften ein: keine kann<br />

mir das einfachste Werden völlig erklären,<br />

was liegt mir also an ihnen allen?<br />

Ein Andrer sagte von der Geschichte<br />

‘dem welcher die Ideen hat, sagt sie<br />

nichts Neues’ – kurz, sie fanden immer<br />

Gründe, weshalb es philosophischer sei<br />

nichts zu wissen als etwas zu lernen.<br />

Liessen sie sich aber auf’s Lernen ein,<br />

so war dabei ihr geheimer Impuls, den<br />

Wissenschaften zu entfliehen und in irgend<br />

einer ihrer Lücken und Unaufgehelltheiten<br />

ein dunkles Reich zu gründen.<br />

So gingen sie nur noch in dem Sinne<br />

den Wissenschaften voran, wie das<br />

Wild vor den Jägern, die hinter ihm her<br />

sind. Neuerdings gefallen sie sich mit<br />

der Behauptung, dass sie eigentlich nur<br />

die Grenzwächter und Aufpasser der<br />

Wissenschaften seien; dazu dient ihnen<br />

besonders die kantische Lehre, aus welcher<br />

sie einen müssigen Scepticismus<br />

zu machen beflissen sind, um den sich<br />

bald Niemand mehr bekümmern wird.<br />

Nur hier und da schwingt sich noch einer<br />

von ihnen zu einer kleinen Metaphysik<br />

auf, mit den gewöhnlichen Folgen,<br />

nämlich Schwindel, Kopfschmer-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 121

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