Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
zen und Nasenbluten. Nachdem es ihnen<br />
so oft mit dieser Reise in den Nebel<br />
und die Wolken misslungen ist, nachdem<br />
alle Augenblicke irgend ein rauher<br />
hartköpfiger Jünger wahrer Wissenschaften<br />
sie bei dem Schopfe gefasst<br />
und heruntergezogen hat, nimmt ihr Gesicht<br />
den habituellen Ausdruck der Zimperlichkeit<br />
und des Lügengestraftseins<br />
an. ... Auch das logische Denken kann<br />
man bei ihnen nicht mehr lernen, und<br />
die sonst üblichen Disputirübungen haben<br />
sie in natürlicher Schätzung ihrer<br />
Kräfte eingestellt. Ohne Zweifel ist man<br />
jetzt auf der Seite der einzelnen Wissenschaften<br />
logischer, behutsamer, bescheidner,<br />
erfindungsreicher, kurz es<br />
geht dort philosophischer zu als bei den<br />
sogenannten Philosophen.“<br />
Wie überlegen <strong>Nietzsche</strong> sich den genialen<br />
Philosophen vorstellt, sagt er schon<br />
hier ganz deutlich, und diese Hochschätzung<br />
des Genius gibt dann auch den Grund<br />
ab <strong>für</strong> all jene späteren Maßnahmen, die<br />
er sich <strong>für</strong> die Ermöglichung des „Übermenschen“<br />
wird einfallen lassen:<br />
„Zuletzt aber – was gilt uns die Existenz<br />
eines Staates, die Förderung der Universitäten,<br />
wenn es sich doch vor Allem<br />
um die Existenz der Philosophie auf<br />
Erden handelt! oder – um gar keinen<br />
Zweifel darüber zu lassen, was ich meine<br />
– wenn so unsäglich mehr daran<br />
gelegen ist, dass ein Philosoph auf<br />
Erden entsteht, als dass ein Staat oder<br />
eine Universität fortbesteht.<br />
... Ein Amerikaner mag ihnen sagen,<br />
was ein grosser Denker, der auf diese<br />
Erde kommt, als neues Centrum ungeheurer<br />
Kräfte zu bedeuten hat. ‚Seht<br />
euch vor, sagt Emerson, wenn der grosse<br />
Gott einen Denker auf unsern Planeten<br />
kommen lässt. Alles ist dann in Gefahr.<br />
Es ist wie wenn in einer grossen Stadt<br />
eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo<br />
keiner weiss, was eigentlich noch sicher<br />
ist und wo es enden wird. Da ist nichts<br />
in der Wissenschaft, was nicht morgen<br />
eine Umdrehung erfahren haben möchte,<br />
da gilt kein litterarisches Ansehn<br />
mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten;<br />
alle Dinge, die dem Menschen<br />
zu dieser Stunde theuer und werth<br />
sind, sind dies nur auf Rechnung der<br />
Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte<br />
aufgestiegen sind und welche die gegenwärtige<br />
Ordnung der Dinge ebenso verursachen,<br />
wie ein Baum seine Äpfel<br />
trägt. Ein neuer Grad der Kultur würde<br />
augenblicklich das ganze System<br />
menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung<br />
unterwerfen.‘ Nun, wenn solche<br />
Denker gefährlich sind, so ist freilich<br />
deutlich, wesshalb unsre akademischen<br />
Denker ungefährlich sind; denn<br />
ihre Gedanken wachsen so friedlich im<br />
Herkömmlichen, wie nur je ein Baum<br />
seine Äpfel trug. ... die Würde der Philosophie<br />
[ist] in den Staub getreten: es<br />
scheint, dass sie selber zu etwas Lächerlichem<br />
oder Gleichgültigem geworden<br />
ist: so dass alle ihre wahren Freunde verpflichtet<br />
sind, gegen diese Verwechslung<br />
Zeugniss abzulegen und mindestens<br />
so viel zu zeigen, dass nur jene<br />
falschen Diener und Unwürdenträger<br />
der Philosophie lächerlich oder gleichgültig<br />
sind. Besser noch, sie beweisen<br />
selbst durch die That, dass die Liebe zur<br />
Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges<br />
ist. Dies und jenes bewies Schopenhauer<br />
– und wird es von Tag zu Tage<br />
mehr beweisen.“<br />
122 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000