Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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thos der Distanz nenne, ist jeder starken<br />
Zeit zu eigen.“ 24 <strong>Nietzsche</strong>s Ablehnung<br />
des Ethos der menschlichen Fundamentalgleichheit<br />
mußte sich denn auch notwendigerweise<br />
aus seinen – hier aus Raumgründen<br />
nicht darstellbaren – zentralen<br />
Auffasungen um den „Willen zur Macht“<br />
und den „Übermenschen“ ergeben. Diesen<br />
Zusammenhang veranschaulicht folgendes<br />
Zitat aus „Also sprach Zarathustra“:<br />
„Mit diesen Predigern der Gleichheit<br />
will ich nicht vermischt und verwechselt<br />
sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit:<br />
‚die Menschen sind nicht gleich‘.<br />
Und sie sollen es auch nicht werden! Was<br />
wäre denn meine Liebe <strong>zum</strong> Übermenschen,<br />
wenn ich anders spräche?“ 25<br />
<strong>Nietzsche</strong>s eindeutige Ablehnung der<br />
Gleichheit ging allerdings nicht mit der<br />
Zustimmung zu den in seiner Zeit aufkommenden<br />
rassistischen Ideen einher, distanzierte<br />
er sich doch eindeutig von diesen.<br />
In „Die frühliche Wissenschaft“ heißt es:<br />
„nein, wir lieben die Menschheit nicht;<br />
andererseits sind wir aber auch lange nicht<br />
‚deutsch‘ genug, wie heute das Wort<br />
‚deutsch‘ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus<br />
und dem Rassenhaß das Wort<br />
zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze<br />
und Blutvergiftung Freude haben<br />
zu können, derenthalben sich jetzt in Europa<br />
Volk gegen Volk wie mit Quarantänen<br />
abgrenzt, absperrrt.“ Und weiter: „Wir<br />
Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft<br />
nach zu vielfach und gemischt, als<br />
‚moderne Menschen‘, und folglich wenig<br />
versucht, an jener verlognen Rassen-<br />
Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen,<br />
welche sich heute in Deutschland<br />
als Zeichen deutscher Gesinnung zur<br />
Schau trägt und die bei dem Volke des<br />
‚historischen Sinns‘ zwiefach falsch und<br />
unanständig anmutet. Wir sind, mit einem<br />
Worte – und es soll unser Ehrenwort sein!<br />
– gute Europäer ...“ 26<br />
Wie lassen sich nun <strong>Nietzsche</strong>s Ablehnung<br />
der Demokratie und der Gleichheit<br />
vor dem Hintergrund der Frage nach einer<br />
möglichen ideologischen Wegbereitung<br />
<strong>für</strong> den Nationalsozialismus bewerten?<br />
Zunächst gilt es festzustellen, daß<br />
diese beiden Auffassungen vor dem historisch-politischen<br />
Hintergrund von<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Zeit gesehen werden müssen<br />
und sie seinerzeit keineswegs minoritäre<br />
Auffassungen darstellten. Selbst liberale<br />
Denker wie John Stuart Mill und Alexis<br />
de Tocqueville formulierten Einwände<br />
gegen das Merheitsprinzip zur Legitimation<br />
politischer Herrschaft. 27 Indessen gingen<br />
diese Auffassungen bei <strong>Nietzsche</strong><br />
nicht nur mit der fundamentalen Ablehnung<br />
der Demokratie und der Grundrechte,<br />
sondern auch der Prinzipien des Parlamentarismus<br />
und des Verfassungsstaates<br />
zugunsten der von ihm geforderten elitären<br />
Kasten-Herrschaft einher. Sie sollte die<br />
<strong>Gesellschaft</strong> losgelöst von einer Legitimation<br />
durch die Masse und Nähe <strong>zum</strong> Volk<br />
dominieren, wo<strong>für</strong> <strong>Nietzsche</strong> auch keine<br />
pseudo-demokratische Mobilisierung <strong>für</strong><br />
ein solches System wie im Nationalsozialismus<br />
<strong>für</strong> nötig hielt. In diesem Punkt<br />
unterschied sich die Auffassung des Philosophen<br />
bei gemeinsamer Ablehnung der<br />
Demokratie zugunsten einer Diktatur von<br />
der politischen Praxis des Hitler-Regimes.<br />
Ähnlich verhält es sich bei der Einstellung<br />
zur Gleichheit, deren Ablehnung bezogen<br />
auf den Rechtsstatus aller Menschen bzw.<br />
Bürger ebenfalls beiden eigen war. Indessen<br />
bestanden <strong>für</strong> die Unterscheidung<br />
unterschiedliche Kriterien: Während die<br />
Nationalsozialisten die angebliche „rassische“<br />
Andersartigkeit <strong>zum</strong> entscheidenden<br />
Gesichtspunkt erhoben und dadurch die<br />
20 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000