Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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könnten, möchte ich nicht behaupten – einzelnes,<br />
wie billig, ausgenommen. ... Im Grunde<br />
wollte ich mit diesen Schriften etwas ganz andres<br />
als Psychologie treiben – ein Problem der Erziehung<br />
ohnegleichen, ein neuer Begriff der<br />
Selbst-Zucht, Selbst-Verteidigung bis zur Härte,<br />
ein Weg zur Größe und zu welthistorischen Aufgaben<br />
verlangte nach seinem ersten Ausdruck.<br />
Ins große gerechnet nahm ich zwei berühmte und<br />
ganz und gar noch unfestgestellte Typen beim<br />
Schopf, wie man eine Gelegenheit beim Schopf<br />
nimmt, um etwas auszusprechen, um ein paar<br />
Formeln, Zeichen, Sprachmittel mehr in der<br />
Hand zu haben. Dies ist zuletzt, mit vollkommen<br />
unheimlicher Sagazität, [in] der dritten Unzeitgemäßen<br />
auch angedeutet. Dergestalt hat sich<br />
Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik<br />
<strong>für</strong> Plato. – Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf<br />
jene Zustände zurückblicke, deren Zeugnis diese<br />
Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen,<br />
daß sie im Grunde bloß von mir reden. Die<br />
Schrift »Wagner in Bayreuth« ist eine Vision<br />
meiner Zukunft; dagegen ist in »Schopenhauer<br />
als Erzieher« meine innerste Geschichte, mein<br />
Werden eingeschrieben. Vor allem mein Gelöbnis!<br />
...<br />
Hier ist jedes Wort erlebt, tief, innerlich; es fehlt<br />
nicht am Schmerzlichsten, es sind Worte darin,<br />
die geradezu blutrünstig sind. Aber ein Wind der<br />
großen Freiheit bläst über alles weg; die Wunde<br />
selbst wirkt nicht als Einwand. – Wie ich den<br />
Philosophen verstehe, als einen furchtbaren Explosionsstoff,<br />
vor dem alles in Gefahr ist, wie<br />
ich meinen Begriff »Philosoph« meilenweit abtrenne<br />
von einem Begriff, der sogar noch einen<br />
Kant in sich schließt, nicht zu reden von den<br />
akademischen »Wiederkäuern« und andren Professoren<br />
der Philosophie, darüber gibt diese<br />
Schrift eine unschätzbare Belehrung, zugegeben<br />
selbst daß hier im Grunde nicht »Schopenhauer<br />
als Erzieher«, sondern sein Gegensatz, »<strong>Nietzsche</strong><br />
als Erzieher«, zu Worte kommt.“<br />
17<br />
Was sollte uns eine Philosophie sein, die nicht<br />
anspricht!? Der es nicht um die bedeutsamen<br />
Fragmale des lebendigen Menschen geht? Daher<br />
die Ablehnung der „Fachphilosophie“ etwa<br />
durch Schopenhauer, Feuerbach und <strong>Nietzsche</strong>:<br />
„Ich mache mir aus einem Philosophen gerade<br />
so viel, als er imstande ist ein Beispiel zu geben.“<br />
(3. UZB, 3)<br />
18<br />
I. Kant, Was ist Aufklärung, Einleitung (1783):<br />
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu<br />
bedienen!“<br />
19<br />
Wer dächte da nicht an die in Anm. 6 genannte<br />
Kantsche Schrift, in welcher „der Ausgang aus<br />
der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gefordert<br />
wird?<br />
20<br />
Daran, daß <strong>Nietzsche</strong> hier mit Schopenhauer<br />
den Heiligen neben den Philosophen und Künstler<br />
stellt, läßt sich ersehen, daß er sich zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht in so schroffer Weise<br />
von der „dekadenten Masse“ abgesetzt hatte wie<br />
später: Kein „Heiliger“ sieht sich als Gegensatz<br />
zur Masse der Normalmenschen, sondern als deren<br />
Vorbild und Hoffnung – und <strong>Nietzsche</strong>s Kulturkritik<br />
kann ja auch nur darin motiviert sein,<br />
auf die ihn umgebenden Menschen fördernd einzuwirken.<br />
21<br />
Heraushebungen in Fettstellung durch den Verf.<br />
22<br />
Diese Einschätzung des Christentums aus dem<br />
Munde <strong>Nietzsche</strong>s macht doch sehr stutzig – der<br />
Staat als „Verderber des Christentums“?! Man<br />
könnte den Eindruck gewinnen, daß er sophistisch<br />
so argumentiert, wie er es gerade gebrauchen<br />
kann.<br />
23<br />
Wenn man es <strong>für</strong> den richtigen Einstieg in die<br />
Philosophie hält, mit logischen Paradoxen den<br />
Kopf der Hörer in den Schwindel zu treiben –<br />
die deutsche Sprache zeigt auch hier sehr schön<br />
den sinnlichen und abstrakt-übertragenen Doppelsinn<br />
solchen Tuns! –, so gibt man sich selbst<br />
damit an, nicht verstanden zu haben, was Philosophie<br />
ist. Die Logik ist das Endergebnis der<br />
Wesensaufdeckung in der Vernunftentwicklung<br />
– eine „Einführung in die Philosophie“, die damit<br />
beginnt, womit sie eigentlich enden sollte:<br />
mit der Reflexion der Infragestellung ihrer eigenen<br />
Ergebnisse, muß ihr Ziel verfehlen. Eine<br />
wirkliche epagogé (Heranführung) im sokratischen<br />
Sinn, die sich als Maieutik (Geburtshilfe<br />
– sic!) versteht, würde – wie auch sonst in jeder<br />
genetischen bzw. kulturellen Entwicklung – in<br />
der Ontogenese den Weg der Phylogenese nachzugehen<br />
suchen. D.h., sie würde sich klarmachen,<br />
warum und als was Philosophie mit der<br />
Frage nach dem Wesen der Dinge durch die Vernunft<br />
an diesem Punkt entstehen mußte, und<br />
gleichzeitig würde sie diese Schilderung der kulturellen<br />
Phänomene unterfüttern durch eine anthropologische<br />
Entwicklungsgeschichte des<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 129