Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Natur schiesst den Philosophen wie einen<br />
Pfeil in die Menschen hinein, sie<br />
zielt nicht, aber sie hofft, dass der Pfeil<br />
irgendwo hängen bleiben wird. Dabei<br />
aber irrt sie sich unzählige Male und hat<br />
Verdruss. Sie geht im Bereiche der Kultur<br />
ebenso vergeuderisch um, wie bei<br />
dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke<br />
erfüllt sie auf eine allgemeine und<br />
schwerfällige Manier: wobei sie viel zu<br />
viel Kräfte aufopfert. Der Künstler und<br />
andererseits die Kenner und Liebhaber<br />
seiner Kunst verhalten sich zu einander<br />
wie ein grobes Geschütz und eine Anzahl<br />
Sperlinge. Es ist das Werk der Einfalt,<br />
eine grosse Lawine zu wälzen, um<br />
ein wenig Schnee wegzuschieben, einen<br />
Menschen zu erschlagen, um die Fliege<br />
auf seiner Nase zu treffen. ...<br />
Wer nun die Unvernunft in der Natur<br />
dieser Zeit erkannt hat, wird auf Mittel<br />
sinnen müssen, hier ein wenig<br />
nachzuhelfen; seine Aufgabe wird aber<br />
sein, die freien Geister und die tief an<br />
unsrer Zeit Leidenden mit Schopenhauer<br />
bekannt zu machen, sie zu sammeln<br />
und durch sie eine Strömung zu erzeugen,<br />
mit deren Kraft das Ungeschick zu<br />
überwinden ist, welches die Natur bei<br />
Benutzung des Philosophen <strong>für</strong> gewöhnlich<br />
und auch heute wieder zeigt.<br />
Solche Menschen werden einsehen, dass<br />
es dieselben Widerstände sind, welche<br />
die Wirkung einer grossen Philosophie<br />
verhindern und welche der Erzeugung<br />
eines grossen Philosophen im Wege stehen;<br />
weshalb sie ihr Ziel dahin bestimmen<br />
dürfen, die Wiedererzeugung Schopenhauers,<br />
das heisst des philosophischen<br />
Genius vorzubereiten. Das aber,<br />
was der Wirkung und Fortpflanzung<br />
seiner Lehre sich von Anbeginn widersetzte,<br />
was endlich auch jene Wiedergeburt<br />
des Philosophen mit allen Mitteln<br />
vereiteln will, das ist, kurz zu reden,<br />
die Verschrobenheit der jetzigen<br />
Menschennatur; weshalb alle werdenden<br />
grossen Menschen eine unglaubliche<br />
Kraft verschwenden müssen, um<br />
sich nur selbst durch diese Verschrobenheit<br />
hindurch zu retten. Die Welt, in die<br />
sie jetzt eintreten, ist mit Flausen eingehüllt;<br />
das brauchen wahrhaftig nicht nur<br />
religiöse Dogmen zu sein, sondern auch<br />
solche flausenhafte Begriffe wie „Fortschritt“,<br />
„allgemeine Bildung“, „National“,<br />
„moderner Staat“, „Culturkampf“;<br />
ja man kann sagen, dass alle allgemeinen<br />
Worte jetzt einen künstlichen und<br />
unnatürlichen Aufputz an sich tragen,<br />
weshalb eine hellere Nachwelt unserer<br />
Zeit im höchsten Maasse den Vorwurf<br />
des Verdrehten und Verwachsenen machen<br />
wird – mögen wir uns noch so laut<br />
mit unserer „Gesundheit“ brüsten.“<br />
Kein Gegenmittel gegen diese „Verschrobenheit“<br />
ist insbesondere das Studium der<br />
Philosophie:<br />
„Was geht unsre Jünglinge die Geschichte<br />
der Philosophie an? Sollen sie<br />
durch das Wirrsal der Meinungen entmuthigt<br />
werden, Meinungen zu haben?<br />
Sollen sie angelehrt werden, in den Jubel<br />
einzustimmen, wie wir’s doch so<br />
herrlich weit gebracht? Sollen sie etwa<br />
gar die Philosophie hassen oder verachten<br />
lernen? Fast möchte man das letztere<br />
denken, wenn man weiss, wie sich<br />
Studenten, ihrer philosophischen Prüfungen<br />
wegen, zu martern haben, um<br />
die tollsten und spitzesten Einfälle des<br />
menschlichen Geistes, neben den grössten<br />
und schwerfasslichsten, sich in das<br />
arme Gehirn einzudrücken. Die einzige<br />
120 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000