Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Volk der Weltgeschichte“, bezog diesen<br />
Vorwurf aber auf den Einfluß der jüdischen<br />
auf die christliche Moral, die „nicht<br />
mehr der Ausdruck der Lebens- und<br />
Wachstums-Bedingungen eines Volks,<br />
nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens,<br />
sondern abstrakt geworden, Gegensatz<br />
<strong>zum</strong> Leben geworden ...“ 41 Solche<br />
Auffassungen finden sich zwar auch bei<br />
den nicht-christlichen völkischen Antisemiten,<br />
im Unterschied zu dem Philosophen<br />
gingen sie bei diesen aber mit der<br />
Forderung nach Diskriminierung und Verfolgung<br />
der Juden einher. Daher verwirft<br />
<strong>Nietzsche</strong> zwar die jüdische Religion, läßt<br />
sich aber nicht als Antisemit bezeichnen.<br />
Dies unterscheidet ihn grundlegend vom<br />
späteren deutschen Nationalsozialismus,<br />
aber keineswegs vom europäischen Faschismus.<br />
Die Mussolinische Variante in<br />
Italien neigte etwa erst ab der zweiten<br />
Hälfte der dreißiger Jahre als Reaktion auf<br />
die Entwicklung in Deutschland zu dezidiert<br />
antisemitischen Auffassungen.<br />
Abschließende Einschätzung<br />
Wie läßt sich nun vor dem Hintergrund<br />
der dargestellten und kommentierten politischen<br />
Auffassungen <strong>Nietzsche</strong>s die<br />
oben gestellte Frage nach der Rolle als<br />
ideologischer Wegbereiter des Faschismus<br />
und Nationalsozialismus beantworten?<br />
Wie der Hinweis auf die jeweiligen Übereinstimmungen<br />
und Unterschiede bereits<br />
veranschaulichte, muß bei dem Versuch<br />
einer Antwort differenziert vorgegangen<br />
werden. Ein erster wichtiger Aspekt wäre<br />
die Rezeption des Philosophen in den jeweiligen<br />
politischen Systemen und bei<br />
deren führenden Protagonisten. Während<br />
Mussolini sich noch in seiner sozialistischen<br />
Phase neben Marx am stärksten von<br />
<strong>Nietzsche</strong> geprägt zeigte, scheint Hitler<br />
sich nicht näher mit dem Philosophen auseinandergesetzt<br />
zu haben. Bei Intellektuellen<br />
in beiden Systemen läßt sich eine<br />
positive Rezeption und ideologische Vereinnahmung<br />
<strong>Nietzsche</strong>s feststellen, wozu<br />
<strong>für</strong> Italien Julius Evola und Giovanni<br />
Gentile sowie <strong>für</strong> Deutschland Alfred<br />
Baeumler und Richard Oehler exemplarisch<br />
genannt seien. Allerdings formulierten<br />
nationalsozialistische Intellektuelle<br />
auch Kritik an dem Philosophen, wobei<br />
Autoren wie Christoph Steding und Curt<br />
von Westernhagen insbesondere die wohlwollenden<br />
Anmerkungen zu den Juden<br />
und die ablehnden Kommentare <strong>zum</strong> biologischen<br />
Rasse-Begriff hervorhoben. 42<br />
Vorherrschend im „Dritten Reich“ war<br />
indessen die offizielle Anerkennung und<br />
Würdigung sowie die ideologische Instrumentalisierung<br />
und Vereinnahmung. Doch<br />
macht dies <strong>Nietzsche</strong> <strong>zum</strong> ideologischen<br />
Wegbereiter des Nationalsozialismus?<br />
Gegen eine bejahende Antwort sprechen<br />
eine Reihe von Gründen: Zunächst beeinflußte<br />
der Philosoph mit seinem Werk<br />
auch zahlreiche Intellektuelle, die nicht<br />
dem Faschismus oder Nationalsozialismus<br />
zugerechnet werden können von Albert<br />
Camus über Karl Jaspers bis zu George<br />
Bernard Shaw. Von daher kann man sicherlich<br />
keine „gerade Linie“ von <strong>Nietzsche</strong><br />
zu Hitler ziehen, müßte man sie doch<br />
auch in die anderen philosophischen und<br />
politischen Richtungen ziehen, woraus<br />
letztendlich wohl kaum ein entscheidender<br />
Erkenntnisgewinn entstünde. Hinzu<br />
kommt, daß sowohl Faschismus wie Nationalsozialismus<br />
auch von anderen, möglicherweise<br />
sogar entscheidenderen Denkern<br />
ideologisch beinflußt waren. Und<br />
schließlich muß noch auf den Sachverhalt<br />
der Fälschungen der Schwestern Elisabeth<br />
Förster verwiesen werden, welche Manu-<br />
24 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000