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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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hinaus, wie er es denn auch selbst<br />

wünscht. 27<br />

Die einseitige Fixierung <strong>Nietzsche</strong>s auf<br />

das Individuum und seine Blindheit <strong>für</strong><br />

gesellschaftliche Prozesse<br />

Nun ist natürlich zu fragen: Wie sollen all<br />

die bislang von Menschen gelebten Perspektiven,<br />

die damit als eigene bewußt angenommen<br />

werden sollen, nebeneinander<br />

Platz in einem Gehirn finden? Und richtig,<br />

bei den meisten „Individuen“ wird es<br />

so sein, daß sie sich bei der mehr oder weniger<br />

bewußten Kenntnisnahme der Tradition<br />

dieser Existenzformen wiederum<br />

mehr oder weniger unbewußt <strong>für</strong> eine ihnen<br />

entsprechende und daher „sympathische“<br />

Form und damit <strong>für</strong> eine bestimmte<br />

Religion oder Philosophie weniger entscheiden<br />

als sich dieser überlassen. Dagegen<br />

spricht nun ganz und gar nichts,<br />

vielmehr ist dies eine der Hauptaufgaben<br />

der Tradition: Angebot an die nachfolgenden<br />

Generationen zu sein, sich aus ihr die<br />

jeweils auf eine bestimmte genetische und<br />

kulturelle Ausprägung passende Weise des<br />

Existierens entborgen zu lassen. Hier ist<br />

die <strong>Nietzsche</strong>sche Auffassung des Verhältnisses<br />

von „Masse“ und Tradition völlig<br />

verfehlt, wenn er (mit Schopenhauer!) einseitig<br />

auf die Erzeugung des „Genies“ setzt<br />

und den „Rest“ der Menschen zur „Fabrikwaare“<br />

erklärt. Beide übergehen im<br />

subjektiv-einseitigen Entschluß die unaufhebliche<br />

Zusammengehörigkeit von Einzelnem<br />

und Masse sowie deren Wechselwirkung.<br />

28<br />

Manchen Individuen – und dies ist keineswegs<br />

„elitär“ gemeint, sondern eher<br />

schon im Sinne der Mendelschen Vererbungslehre:<br />

daß ganz bestimmte erbliche<br />

Verbindungen seltener sind als andere –<br />

können sich, bedingt durch ihre individuelle<br />

Konstitution, die sich aus „Begabung“<br />

und/oder Umweltdruck ergeben mag, mit<br />

einer „nur“ wiederholenden (Massen)-<br />

Existenzweise nicht anfreunden – sie wollen<br />

und müssen im <strong>Nietzsche</strong>schen Sinne<br />

diejenigen werden, die sie selbst sind. An<br />

dieser Stelle aber hat <strong>Nietzsche</strong> seinen eigenen<br />

Polyperspektivismus verraten, indem<br />

er meinte, bestimmte Perspektiven/<br />

Existenzformen als richtig, andere als<br />

falsch bewerten zu sollen. Er als Subjekt,<br />

das als so seiendes an seiner Umwelt leidet,<br />

spricht aus ganz falschen Überlegungen<br />

heraus, die er mit quasi objektiven Kriterien<br />

des Lebens selbst gleichsetzt, bestimmten<br />

Existenzformen das Lebensrecht<br />

ab. Er will den Nihilismus der Vernunft<br />

am Ende von deren Metaphysik mit der<br />

Rückwendung auf Sinnlichkeit und Instinkt<br />

(ohne je dies gehörig zu unterscheiden)<br />

„überwinden“, indem er all jene Perspektiven<br />

als „schädlich“ und „hemmend“<br />

verwirft, welche die Vernunft seit Sokrates<br />

über Platon und Aristoteles, das Christentum<br />

und vor allem die Aufklärung in<br />

2500jähriger Arbeit ans Licht gezogen hat.<br />

Für ihn sind es allein die „seltenen großen<br />

Einzelnen“, die die Welt rechtfertigen und<br />

ihr Sinn und Gesetz geben, es komme allein<br />

darauf an, die Bedingungen <strong>für</strong> die<br />

Hervorbringung solcher Genies zu schaffen.<br />

29<br />

Daher stammt es auch, daß er sich in völliger<br />

Unkenntnis seiner gleichzeitigen gesellschaftlichen<br />

Umwelt befindet – weder<br />

die Politik der Mächtigen seiner Zeit noch<br />

die gesellschaftlichen Bedingungen der<br />

Menschen interessieren ihn wirklich, sondern<br />

nur insoweit, als sie seinen eigenen<br />

Auffassungen entgegenstehen. Die in seiner<br />

Zeit stattfindenden Auseinandersetzungen<br />

um Demokratie, Sozialismus, Liberalismus,<br />

Nationalismus und Imperia-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 125

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