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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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vorliegt: sie haben ihr eigne Volks-Vergangenheit<br />

mit einem Hohn ohnegleichen<br />

gegen jede Überlieferung, gegen jede historische<br />

Realität, ins Religiöse übersetzt<br />

...“ 7 <strong>Nietzsche</strong> behauptete derartige Fälschungen<br />

allerdings nur, ohne Belege <strong>für</strong><br />

die Bewertung vorzubringen. Dies hängt<br />

<strong>zum</strong> einen mit seinem methodischen Vorgehen<br />

beim Philosophieren zusammen,<br />

<strong>zum</strong> anderen aber auch mit dem geringen<br />

Interesse an solchen Sachverhalten an<br />

sich. Ihm ging es im Kern bei seiner Kritik<br />

des Christentums um etwas anderes als<br />

die atheistische Sicht der Religion.<br />

Leben und Natur als <strong>Nietzsche</strong>s Gegenpol<br />

<strong>zum</strong> Christentum<br />

Viel gravierender als die vorgenannten<br />

Differenzen unterschieden sich <strong>Nietzsche</strong>s<br />

Auffassungen von diesen durch die Ablehnung<br />

von Abstraktion und Aufklärung,<br />

Humanität und Moderne, Rationalität und<br />

Vernunft. Der Philosoph sah in all dem<br />

einen Gegenpol <strong>zum</strong> Leben und zur Natur,<br />

was sich als Grundauffassung durch<br />

alle Phasen seines Werkes hindurchzieht.<br />

Deutlich zeigte sich diese Stoßrichtung<br />

bereits in „Die Geburt der Tragödie“, wo<br />

das Apollinische und das Dionysische als<br />

Bestandteile antiker Kultur im allgemeinen<br />

und der attischen Tragödie im besonderen<br />

beschrieben werden. Bei ihnen handelte<br />

es sich <strong>für</strong> <strong>Nietzsche</strong> um aus der<br />

Natur ohne Vermittlung des menschlichen<br />

Künstlers hervorbrechende irrationale<br />

Mächte. Deren Bedeutung sei indessen<br />

von der früheren griechischen Aufklärungsphilosophie<br />

mit ihrer Ratio und ihrem<br />

Zweifel verdrängt worden. Hierbei<br />

habe insbesondere Sokrates‘ Wirken eine<br />

verhängnisvolle Rolle gespielt, verkörpere<br />

er doch den „Typus des theoretischen<br />

Menschen“ mit einer tiefsinnigen „Wahnvorstellung“.<br />

Sie bestehe in jenem unerschütterlichen<br />

„Glaube, daß das Denken, an dem Leitfaden<br />

der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe<br />

des Seins reiche, und daß das Denken<br />

das Sein nicht nur zu erkennen, sondern<br />

sogar zu korrigieren imstande sei.“ 8<br />

Unverkennbar schwingt in derartigen Formulierungen<br />

die fundamentale Kritik an<br />

den Ideen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts<br />

mit. Sie ging einher mit der Ablehnung<br />

von anderen Prinzipien, wo<strong>für</strong> der<br />

Name des von <strong>Nietzsche</strong> mit am intensivsten<br />

verdammten Philosophen Immanuel<br />

Kant stand. Insbesondere das Denken mit<br />

Hilfe von Abstraktionen und die Entwicklung<br />

einer vernunftbegründeten Pflichtehtik<br />

boten den Gegenstand der Kritik. So<br />

heißt es etwa in „Der Antichrist“: „Nichts<br />

ruiniert tiefer, innerlicher als jede ‚unpersönliche‘<br />

Pflicht, jede Opferung vor dem<br />

Moloch der Abstraktion.“ Und weiter:<br />

„Der fehlgreifende Instinkt in allem und<br />

jedem, die Widernatur als Instinkt, die<br />

deutsche décadence als Philosophie – das<br />

ist Kant!“ 9 Besonders wichtig ist hier, daß<br />

die Ablehnung ganz zentral mit dem Verweis<br />

auf die Natur begründet wird.<br />

Angesichts der in den vorstehenden Zitaten<br />

<strong>zum</strong> Ausdruck kommenden grundlegenden<br />

Ablehnung der Vernunftorientierung<br />

und ihrer geistigen Vorläufer seit<br />

Sokrates sah sich <strong>Nietzsche</strong> zu einer vollständigen<br />

Verwerfung der europäischen<br />

Philosophie veranlaßt. Im Nachlaß aus den<br />

achtziger Jahren findet sich die Bemerkung:<br />

Ihre Geschichte „ist ein heimliches<br />

Wüten gegen die Voraussetzungen des<br />

Lebens, gegen die Wertgefühle des Lebens,<br />

gegen das Parteinehmen zugunsten<br />

des Lebens.“ 10 Gerade der auch in diesem<br />

Zitat <strong>zum</strong> Ausdruck kommende Bezug auf<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 41

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