Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
seine Angriffe auf unsere religiöse und<br />
philosophische Tradition motivierte.“<br />
In ganz ähnlicher Weise stellt <strong>Nietzsche</strong><br />
selbst in seiner Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung<br />
Schopenhauer als Vorbild auf<br />
und will <strong>für</strong> die Lektüre von dessen Werken<br />
werben. Bevor wir uns jedoch dieser<br />
Schrift näher zuwenden, möchte ich noch<br />
auf einige Punkte hinweisen:<br />
Der Philologe und die Philosophie<br />
Bekanntlich war <strong>Nietzsche</strong> im Zeitpunkt<br />
von deren Abfassung ordentlicher Professor<br />
der klassischen Philologie in Basel; all<br />
seine bis dahin erfolgten öffentlichen Äußerungen,<br />
seien es die Bildungsvorträge<br />
bzw. die „Geburt der Tragödie“ oder die<br />
zwei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen,<br />
kamen als merkwürdige Zwitterwesen<br />
aus Philologie und Philosophie, Philhellenismus<br />
und Kulturkritik daher, was<br />
ihm bei seinen Fachkollegen mit der „Geburt<br />
der Tragödie“ denn auch den Ruf<br />
kostete.<br />
Doch dieser Zug zur Philosophie kommt<br />
bei <strong>Nietzsche</strong> durchaus nicht überraschend<br />
– und so scheinen hier einige Anmerkungen<br />
notwendig, warum er überhaupt<br />
die Baseler Professur annahm, die<br />
er später niederzulegen gezwungen war.<br />
Und wirklich ist es wohl eher einer Ironie<br />
des Schicksals zuzuschreiben als einem<br />
bewußten Entschluß, daß sich <strong>Nietzsche</strong><br />
nicht bereits 1869 von der Philologie abwandte;<br />
denn mit seinem Freunde Ernst<br />
Rohde 2 erwägt er <strong>zum</strong> Jahreswechsel<br />
1868/69 ernsthaft, „die Philologie dorthin<br />
zu werfen, wohin sie gehört, <strong>zum</strong> Urväter-Hausrath.“<br />
3 Zur genau gleichen Zeit,<br />
in der Ritschl, sein Leipziger Lehrer und<br />
Förderer, ohne Wissen <strong>Nietzsche</strong>s bereits<br />
dessen Baseler Professur betreibt und dabei<br />
eine lesenswerte Schilderung der damaligen<br />
Stellung <strong>Nietzsche</strong>s in Leipzig<br />
gibt 4 , erwägen die Freunde mehrfach, in<br />
Paris naturwissenschaftliche Studien aufzunehmen.<br />
5<br />
Daß <strong>Nietzsche</strong> an einem solchen „Schicksalswink“<br />
wie dem Angebot der Philologie-Professur<br />
ohne vorherige Promotion<br />
und Habilitation nicht achtlos vorübergehen<br />
konnte, leuchtet von selbst ein; er ließ<br />
die Pariser Pläne fallen, und dies umso<br />
mehr, da er seine philosophischen Anliegen<br />
aus der damaligen anderen Stellung<br />
der Philologie heraus – wie wir gleich<br />
sehen werden – auch von dieser her meinte<br />
verwirklichen zu können. Plant er doch<br />
bereits in Oktober 1867 eine Arbeit über<br />
„Schopenhauer als Schriftsteller“ 6 ; und<br />
Anfang Juni 1868 schreibt er: „Größere<br />
litterarische Arbeiten wachsen in mir von<br />
Tag zu Tag, ... indem ich viel <strong>für</strong> mich<br />
über die rechte Methode des Lehrens und<br />
Lernens, über das Maß und die Bedürfnisse<br />
jetziger Philologie nachdenke.“ 7<br />
Am 8. November 1868 lernt <strong>Nietzsche</strong> in<br />
Leipzig Richard Wagner kennen – die Bedeutung<br />
dieses zufälligen Zusammentreffens<br />
<strong>für</strong> <strong>Nietzsche</strong> ist genugsam bekannt 8 ;<br />
jedenfalls wird auch dies ihm <strong>zum</strong> Anlaß,<br />
die Baseler Professur als wünschenswert<br />
anzunehmen, da sie ihn in die Nähe<br />
des verehrten Meisters bringt, der gleich<br />
ihm Anhänger der Schopenhauerschen<br />
Lehre ist.<br />
Hinzukommt, daß Ende des 18. und zu<br />
Beginn des 19. Jahrhunderts die Philologie<br />
völlig andere Wirkungsmöglichkeiten<br />
bot und ein ganz anderes Ansehen genoß<br />
als heute, wie W. Most 9 schildert:<br />
„Neuere Forschungen zur Geschichte<br />
der Altertumswissenschaft haben in den<br />
letzten Jahrzehnten ein neues und in vie-<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 103