Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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fasst hat, sich der einzelnen Wissenschaften<br />
ohne eigene Schädigung bedienen<br />
wird, denn ohne ein solches regulatives<br />
Gesammtbild sind sie Stricke, die<br />
nirgends an’s Ende führen und unsern<br />
Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer<br />
machen.“<br />
Aus dieser berechtigten Kritik an der Nahperspektive<br />
einer rein wissenschaftlichen<br />
Haltung zieht <strong>Nietzsche</strong> mit Schopenhauer<br />
den Schluß auf die Notwendigkeit des<br />
„Genius“, der „dem Leben“ seinen Sinn<br />
und seine „Heiligkeit“ verbürge:<br />
„Jeder Mensch pflegt in sich eine Begrenztheit<br />
vorzufinden, seiner Begabung<br />
sowohl als seines sittlichen Wollens,<br />
welche ihn mit Sehnsucht und Melancholie<br />
erfüllt; und wie er aus dem Gefühl<br />
seiner Sündhaftigkeit sich hin nach<br />
dem Heiligen sehnt, so trägt er, als intellectuelles<br />
Wesen, ein tiefes Verlangen<br />
nach dem Genius in sich. ... Wo wir<br />
Begabung ohne jene Sehnsucht finden,<br />
im Kreise der Gelehrten oder auch bei<br />
den sogenannten Gebildeten, macht sie<br />
uns Widerwillen und Ekel; denn wir<br />
ahnen, dass solche Menschen, mit allem<br />
ihrem Geiste, eine werdende Cultur<br />
und die Erzeugung des Genius – das<br />
heisst das Ziel aller Cultur – nicht fördern,<br />
sondern verhindern. Es ist der Zustand<br />
einer Verhärtung, im Werthe<br />
gleich jener gewohnheitsmässigen, kalten<br />
und auf sich selbst stolzen Tugendhaftigkeit,<br />
welche auch am weitesten<br />
von der wahren Heiligkeit entfernt ist<br />
und fern hält.“<br />
Neben diesen Gefahren, denen das Individuum<br />
selbst ausgesetzt ist:<br />
· das sich-Verlieren in den normalen<br />
Schätzungen („Faulheit“) und die<br />
aus deren Ablehnung folgende Einsamkeit<br />
· das Hängenbleiben in der „reinen<br />
Wissenschaft“<br />
· das Loslassen des Ideals und daraus<br />
folgende innerlich-sittliche Verhärtung<br />
wirken auf jeden Einzelnen ebenso wie<br />
auf Schopenhauer Gefahren aus seiner<br />
eigenen Zeit ein, dies umso mehr, als je<br />
„tiefstehender“ bzw. „enger“ die je eigene<br />
Zeit gegenüber anderen, etwa der griechischen<br />
Antike, gesehen wird:<br />
„Die Sehnsucht nach starker Natur, nach<br />
gesunder und einfacher Menschheit war<br />
bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst;<br />
und sobald er die Zeit in sich besiegt<br />
hatte, musste er auch, mit erstauntem<br />
Auge, den Genius in sich erblicken. ...<br />
Wenn er jetzt nun sein furchtloses Auge<br />
der Frage zuwandte: ‚was ist das Leben<br />
überhaupt werth?‘ so hatte er nicht mehr<br />
eine verworrene und abgeblasste Zeit<br />
und deren heuchlerisch unklares Leben<br />
zu verurtheilen. Er wusste es wohl, dass<br />
noch Höheres und Reineres auf dieser<br />
Erde zu finden und zu erreichen sei als<br />
solch ein zeitgemässes Leben, und dass<br />
Jeder dem Dasein bitter Unrecht thue,<br />
der es nur nach dieser hässlichen Gestalt<br />
kenne und abschätze. Nein, der<br />
Genius selbst wird jetzt aufgerufen, um<br />
zu hören, ob dieser, die höchste Frucht<br />
des Lebens, vielleicht das Leben überhaupt<br />
rechtfertigen könne; der herrliche<br />
schöpferische Mensch soll auf die Frage<br />
antworten: ‚bejahst denn du im tiefsten<br />
Herzen dieses Dasein? Genügt es<br />
dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Er-<br />
110 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000