Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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lerlei Hinsicht überraschendes Bild vermittelt.<br />
Überspitzt formuliert: In den<br />
Jahrzehnten vor <strong>Nietzsche</strong>s Geburt besaß<br />
die klassische Philologie in Deutschland<br />
etwa dieselbe Stellung innerhalb<br />
der wissenschaftlichen Landschaft wie<br />
die Gentechnik heute. Mit einer Mischung<br />
aus Neid, Ehrfurcht und Sorge<br />
betrachteten die Wissenschaftler anderer<br />
Fachgebiete ihre altphilologischen<br />
Kollegen als die wichtigsten und angesehensten<br />
Grundlagenforscher.“ ... „Die<br />
klassische Philologie damals, wie die<br />
Gentechnik heute, wurde ... durch eine<br />
grundsätzliche Unsicherheit gekennzeichnet:<br />
ob sie sich als reine Erforschung<br />
des tatsächlich Gegebenen verstehen<br />
sollte oder vielmehr als Versuch,<br />
in die kulturelle beziehungsweise genetische<br />
Erbschaft des Menschen einzugreifen<br />
mit dem erklärten Ziel, die<br />
Menschheit selbst zu verbessern.“ ...<br />
„Aus heutiger Sicht ist es eher erstaunlich,<br />
daß <strong>Nietzsche</strong> sich mit leidenschaftlicher<br />
Hingabe und unermüdlicher<br />
Energie einem Wissenschaftsideal verschrieb,<br />
zu einem Zeitpunkt, als die<br />
Führungsrolle der deutschen Altertumswissenschaft<br />
längst nicht mehr selbstverständlich<br />
war, sondern sie tiefen<br />
Zweifeln und Selbstzweifeln ausgesetzt<br />
war. Aus dieser unbewußten Unzeitgemäßheit<br />
entstand unvermeidbar ein<br />
wachsendes Unbehagen, das bewirkte,<br />
daß <strong>Nietzsche</strong> sich zunächst allmählich<br />
von seinem Fach entfernte, dann aber<br />
drastisch und definitiv mit ihm brach.<br />
In der Abwendung von seiner beispiellos<br />
erfolgreichen Gelehrtenkarriere<br />
drückte sich nicht nur ein persönliches<br />
Schicksal aus, sondern auch das unaufhaltsame<br />
Scheitern eines ganzen Bildungs-<br />
und Kulturprogramms.“<br />
Die Enttäuschung über die Rolle und die<br />
Möglichkeiten der Philologie bietet so einen<br />
heute meist nicht wahrgenommenen<br />
objektiven Hintergrund <strong>für</strong> die individuell-subjektive<br />
Abkehr <strong>Nietzsche</strong>s von der<br />
zunächst so hochgeschätzten Philologie –<br />
deren Einflußmöglichkeiten er offenbar<br />
zunächst, wie es sich denn ja auch aus<br />
seinen frühen Bildungsvorträgen ergibt,<br />
überschätzt hatte.<br />
Aus diesem früheren großen Einfluß der<br />
Philologie heraus stand sie aber auch notwendig<br />
in einem engeren Zusammenhang<br />
mit der Philosophie als heute – mit der<br />
Restauration der altgriechischen philosophischen<br />
Texte sollte nicht nur eine optimale<br />
Textfassung hergestellt werden; vielmehr<br />
sollte sich die Wirkung der Philologie<br />
aus den Inhalten dieser Texte ergeben,<br />
und diese waren vor allem philosophischer<br />
Natur. <strong>Nietzsche</strong> selbst will die Schriften<br />
der griechischen Autoren denn auch <strong>für</strong><br />
seine eigene Gegenwart fruchtbar machen,<br />
sei es auf dem Pädagogium, wo er Griechisch<br />
zu geben hatte, sei es in seinen Vorlesungen<br />
und Seminaren, sei es in seinen<br />
Bildungsvorträgen vor großem Baseler<br />
Auditorium.<br />
Zur Abfassung seiner Vorlesungen bediente<br />
sich auch <strong>Nietzsche</strong> natürlich vorhandener<br />
Quellen – und so läßt sich an Vorlesungsnachschriften<br />
die Herkunft so<br />
manches seiner Gedanken zeigen, die<br />
dann insbesondere auch <strong>für</strong> seine philosophischen<br />
Thesen von Bedeutung sind.<br />
Hierzu sei ein Beispiel von W. Most 10 angeführt:<br />
„<strong>Nietzsche</strong> hielt im Wintersemester<br />
1872/73 Vorlesungen über die antike<br />
Rhetorik vor genau zwei Studenten, einem<br />
Germanisten und einem Juristen. 11<br />
Viele Jahre später beschrieb letzterer<br />
104 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000