Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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christen, Immoralisten, Nihilisten, diese<br />
Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes<br />
(...), diese letzten Idealisten der Erkenntnis,<br />
in denen allein heute das intellektuelle<br />
Gewissen wohnt und leibhaft<br />
ward – sie glauben sich in der Tat so losgelöst<br />
als möglich vom asketischen Ideale,<br />
diese ‚freien, sehr freien Geister‘: und<br />
doch, daß ich ihnen verrate, was sie selbst<br />
nicht sehen können – denn sie stehen sich<br />
zu nahe – dies Ideal ist gerade auch ihr<br />
Ideal ... Das sind noch lange keine freien<br />
Geister: denn sie glauben noch an die<br />
Wahrheit ...“ 2<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Gemeinsamkeiten mit der<br />
atheistischen Religionskritik<br />
Trotz der Ablehnung der atheistischen<br />
Religionskritik bestanden durchaus Gemeinsamkeiten<br />
zwischen dieser und<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Kritik des Christentums. Hier<br />
sollen sie zunächst dargelegt und eingeschätzt<br />
werden. Dabei gilt es sich aber<br />
immer darüber im Klaren zu sein, daß hinter<br />
ähnlichen Auffassungen der Ablehnung<br />
von Einstellungen und Werten unterschiedliche<br />
Grundauffassungen und<br />
Motive stehen können. Erst deren Berücksichtigung<br />
erlaubt es, inhaltliche Positionen<br />
angemessen und korrekt zuzuordnen.<br />
Ansonsten würde eine analytische Betrachtungsweise<br />
an der Oberfläche verharren<br />
und sich auf die Zuordnung von Erscheinungsformen<br />
beschränken. Gleichwohl<br />
sollen hier zunächst die Gemeinsamkeiten<br />
der atheistischen Religionskritik mit<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Christentumskritik thematisiert<br />
werden, leitet sich daraus doch die<br />
oben erwähnte Zuordnung des Denkers<br />
<strong>zum</strong> Atheismus ab. In einem weiteren<br />
Schritt gilt es dann die philosophischen<br />
Wurzeln von <strong>Nietzsche</strong>s fundamentaler<br />
Ablehnung der christlichen Religion aufzuarbeiten.<br />
Erst auf dieser Basis kann die<br />
Frage nach der Zuordnung dieser Auffassung<br />
<strong>zum</strong> Atheismus beantwortet werden.<br />
Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Deutung<br />
von Religion als Ausdruck der Selbstentfremdung<br />
des Menschen. <strong>Nietzsche</strong><br />
bemerkt: „Der Mensch des Glaubens, der<br />
‚Gläubige‘ jeder Art ist notwendig ein<br />
abhängiger Mensch – ein solcher, der sich<br />
nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt<br />
nicht Zwecke ansetzen kann. Der<br />
‚Gläubige‘ gehört sich nicht, er kann nur<br />
Mittel sein, er muß verbraucht werden,<br />
er hat jemand nötig, der ihn verbraucht.<br />
Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung<br />
die höchste Ehre: zu ihr überredet<br />
ihn alles, seine Klugheit, seine Erfahrung,<br />
seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist<br />
selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von<br />
Selbst-Entfremdung ...“ 3 Diese Auffassung<br />
ist inhaltlich deckungsgleich mit der<br />
atheistischen Auffassung von Religion.<br />
Indessen bildet sie in <strong>Nietzsche</strong>s Kritik des<br />
Christentums nicht den wesentlichen Gesichtspunkt,<br />
sondern wird nur am Rande<br />
in seinen Schriften thematisiert. Der eigentliche<br />
Kern der Haltung des Philosophen<br />
zur Religion im allgemeinen und<br />
dem Christentum im besonderen ist, wie<br />
noch zu zeigen sein wird, in ganz anderen<br />
Auffassungen zu sehen.<br />
Auch in der Deutung des Christentums als<br />
einer Religion der Unterdrückten bestehen<br />
Gemeinsamkeiten. Bei <strong>Nietzsche</strong><br />
heißt es etwa: „Im Christentum kommen<br />
die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter<br />
in den Vordergrund: es sind die<br />
niederen Stände, die in ihm ihr Heil suchen.“<br />
4 Allerdings deutet die atheistische<br />
und freidenkerische Religionskritik diesen<br />
Sachverhalt anders als <strong>Nietzsche</strong>. Sie sieht<br />
darin den bewußten oder unbewußten<br />
Versuch, mittels des Glaubens die politisch<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 39