Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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„Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben<br />
die reine folgenlose Wahrheit sein) ist<br />
auch dem Sprachbildner ganz unfaßlich<br />
und ganz und gar nicht erstrebenswerth.<br />
Er bezeichnet nur die Relationen der<br />
Dinge zu den Menschen und nimmt zu<br />
deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern<br />
zu Hülfe. Ein Nervenreiz, zuerst<br />
übertragen in ein Bild! Erste Metapher.<br />
Das Bild wieder nachgeformt in einen<br />
Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal<br />
vollständiges Überspringen der Sphäre,<br />
mitten hinein in eine ganz andre und<br />
neue.“ 12<br />
<strong>Nietzsche</strong> nimmt in dieser Schrift jenen<br />
Gedanken Gerbers auf und formt ihn aus<br />
und um, und er zieht vor allem die Konsequenzen<br />
daraus <strong>für</strong> den Wahrheitsbegriff<br />
wie auch <strong>für</strong> die Existenz des Menschen<br />
– und so geht er weit über Gerber<br />
hinaus, wenn dieser ihm sicherlich damit<br />
auch eine der Grundlagen <strong>für</strong> seinen späteren<br />
Polyperspektivismus geliefert hat.<br />
Die Dritte Unzeitgemäße Betrachtung:<br />
Von der Kulturkritik zu den eigenen<br />
philosophischen Grundgedanken<br />
<strong>Nietzsche</strong>s<br />
Wir sehen hier zwei parallele Entwicklungen<br />
bei <strong>Nietzsche</strong> vor uns: einmal aus Zeit<br />
und Beruf herkommend versteht er sich<br />
mit der Philologie als Kritiker der herrschenden<br />
Kultur unter Zugrundelegung<br />
des griechischen Gedankenguts – gleichzeitig<br />
aber hat er mit der Kenntnisnahme<br />
des Materialismus (Feuerbach! 13 ), vermittelt<br />
durch <strong>Friedrich</strong> Albert Lange, und in<br />
der Aufnahme der Konsequenzen aus der<br />
Kantschen Philosophie deren Boden längst<br />
verlassen, sich vom Idealismus, der sich<br />
von Platon bis Hegel spannt, abgewandt.<br />
Von daher ist er sich bewußt, daß die Philosophie<br />
ein neues Fundament braucht,<br />
und so kämpft er seither an zwei Fronten:<br />
Kritik am idealistischen Fortschrittsoptimismus<br />
der eigenen Zeit und gleichzeitig<br />
der Versuch, die Frage nach dem Wesen<br />
des Menschen neu zu beantworten. Beide<br />
Ansatzpunkte schließen sich zuletzt zusammen<br />
in der Bestimmung dessen, was<br />
denn der Mensch sein sollte.<br />
Mit der mit „Schopenhauer als Erzieher“ 14<br />
betitelten Betrachtung von 1874 führt<br />
<strong>Nietzsche</strong> seine Baseler Kulturkritik fort,<br />
und so ist in ihr nur vordergründig von<br />
Schopenhauers Person die Rede – und von<br />
dessen Lehre überhaupt nicht: Wie <strong>Nietzsche</strong><br />
später selbst bestätigt, spricht er, wie<br />
übrigens in all seinen Werken, grundsätzlich<br />
von sich selbst, beschreibt er die Wirkungen,<br />
welche die Philosophie Schopenhauers<br />
auf ihn ausübte. Dieser dient ihm<br />
als positives Leitbild, wie in umgekehrter<br />
Weise David <strong>Friedrich</strong> Strauß in der Ersten<br />
Unzeitgemäßen Betrachtung als<br />
Negativbeispiel herhalten muß, ohne daß<br />
damit letztlich die Person von Strauß gemeint<br />
war – beide werden von <strong>Nietzsche</strong><br />
als Stellvertreter bestimmter Positionen<br />
verwendet, mit denen sich <strong>Nietzsche</strong> in<br />
seiner Weise auseinandersetzt. Mit Schopenhauer<br />
und dessen metaphysischer Willensphilosophie<br />
15 sah sich <strong>Nietzsche</strong> insbesondere<br />
vor das Fragmal des „Werde,<br />
der du bist“ gestellt 16 , und deshalb blieb<br />
er ihm zeitlebens trotz aller Abwendung<br />
und Entgegensetzung der verehrte Lehrer.<br />
<strong>Nietzsche</strong> selbst in einem Brief an Paul<br />
Deussen vom Juli 1877: „Schon als ich<br />
meine kleine Schrift über Sch[openhauer]<br />
schrieb, hielt ich von allen dogmatischen<br />
Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber<br />
jetzt noch wie damals, dass es einstweilen<br />
höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer<br />
hindurch zu gehen und ihn als Er-<br />
106 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000