Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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<strong>Nietzsche</strong> als Vorbild?<br />
Wir sehen hier einen aufklärerischen Ansatz,<br />
der stark an Kants berühmtes Motto<br />
der Aufklärung und seinen Aufruf erinnert,<br />
das Wagnis des Selbstdenkens auf<br />
sich zu nehmen; aber bei <strong>Nietzsche</strong> meint<br />
jenes „Werde, der du bist!“ natürlich noch<br />
etwas ganz anderes als bei Kant. Bei letzterem<br />
soll die „Selbstwerdung“ dadurch<br />
herbeigeführt werden, daß sich das Individuum<br />
seiner eigenen Vernunft bedient,<br />
d.h. der menschliche Geist in Form der<br />
Vernunft soll die eigenständige Leitung<br />
übernehmen – im Grunde der genaue Gegensatz<br />
zu <strong>Nietzsche</strong>s Auffassung: Dessen<br />
„Selbst“ soll gerade daraus erstehen,<br />
von den „verkleinernden“, „beengenden“<br />
und „gleichmacherischen“ Anschauungen<br />
der Welt, wie die Vernunft sie im Gefolge<br />
von Sokrates und des Christentums ausbildet,<br />
loszukommen. Er meint das Individuelle<br />
im Hören auf die „Instinkte des<br />
Leibes“ herausfiltern zu sollen. Hier sind<br />
Parallelen zu Stirners „anarchischem Einzelnen“<br />
und Feuerbachs „Sinnlichkeit“ 24<br />
zu finden – in allen drei Fällen eine Umkehrung<br />
des Kantschen Ansatzes. Diese<br />
Umkehrung hat ihre Berechtigung in der<br />
dualistischen Überbetonung der Metaphysik<br />
der Vernunft bei jenem; aber indem<br />
die Vernunft nunmehr im Namen des Leibes<br />
und der Sinne, jedenfalls bei <strong>Nietzsche</strong><br />
und Stirner, verworfen wird, schüttet<br />
man das Kind mit dem Bade aus, anstatt<br />
Leib und Vernunft in ein rechtes Verhältnis<br />
zu bringen. Aus dieser zuletzt immer<br />
noch dualistischen Antithetik zwischen<br />
Leib und Vernunft erwachsen alle<br />
Entgegensetzungen, aus deren Spannung<br />
sich <strong>Nietzsche</strong>s Philosophie bis hin <strong>zum</strong><br />
Antichrist nähren wird: Masse und Einzelner,<br />
„Heerde“ und Genie, „decadence“<br />
und „große Gesundheit“, Mitleid und<br />
„Hammer-Philosophie“, Christentum und<br />
Antike, Dionysos und Apoll. Es sind mithin<br />
bereits hier alle Keime angelegt, die<br />
am späten <strong>Nietzsche</strong> so empören – andererseits<br />
ist in der <strong>kritische</strong>n Bestandsaufnahme<br />
und Diagnose des modernen Menschen<br />
Vieles gesagt, was auch heute noch<br />
auf uns zutrifft und etwa in der „Menschenpark-Debatte“<br />
ganz ähnlich aufgenommen<br />
wurde. Nicht umsonst ist einer<br />
der Gewährsmänner von Sloterdijk <strong>Friedrich</strong><br />
<strong>Nietzsche</strong>, der denn auch <strong>zum</strong> <strong>100.</strong><br />
<strong>Todestag</strong> als Hauptredner der Weimarer<br />
Gedenkveranstaltung auftreten durfte. 25<br />
Da hier in der 3. UZB die späteren Konsequenzen<br />
nur teilweise und in wesentlich<br />
milderer Form sichtbar sind, so kann diese<br />
<strong>kritische</strong> Diagnose auch dem heutigen<br />
Menschen, <strong>für</strong> den sich die von <strong>Nietzsche</strong><br />
prognostizierten negativen Entwicklungen<br />
noch erheblich beschleunigt haben, durchaus<br />
den einen oder anderen Gedanken mit<br />
auf den Weg geben. Ziehen wir noch den<br />
Hauptgedanken der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung<br />
über den Umgang mit der Historie<br />
hinzu, so läßt sich daraus auch heute<br />
noch ein gültiger Ansatzpunkt <strong>für</strong> die<br />
eigene Sehweise und Formung der Existenz<br />
gewinnen: Will das Individuum nicht<br />
eine zufällige Wiederholung längst erstarrter<br />
menschlicher Existenzweise bleiben,<br />
so muß es einerseits durch die Schichtung<br />
und Geschichte des menschlichen Existierens<br />
hindurch, muß sie wissend und existentiell<br />
nacherlebt haben, um sie in diesem<br />
Prozeß, sich selbst als deren lebendiger<br />
Teil akzeptierend, anzuverwandeln.<br />
Wie leicht einzusehen, folgt aus diesem<br />
Vorgehen notwendig der <strong>Nietzsche</strong>sche<br />
Polyperspektivismus ganz von selbst. 26<br />
<strong>Nietzsche</strong> verweist damit auf einen „Dritten<br />
Weg“, denn er will zwischen der Antithetik<br />
von Positivismus/Materialismus/<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 123