Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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löser sein? Denn nur ein einziges wahrhaftiges<br />
Ja! aus deinem Munde – und<br />
das so schwer verklagte Leben soll frei<br />
sein‘. –“<br />
Hier eine der deutlichsten Stellen, wie<br />
<strong>Nietzsche</strong> unversehens selbst in die Rolle<br />
seines Lehrers schlüpft: er wandelt dessen<br />
Willen <strong>zum</strong> Nein um in sein eigenes<br />
„Großes Ja“, schon hier klingt jene Haltung<br />
an, die er in der Fröhlichen Wissenschaft<br />
als amor fati bezeichnen wird – im<br />
Gegensatz zu Schopenhauer.<br />
Zugleich sich die Schopenhauersche Kritik<br />
an Hegel insbesondere an dessen<br />
Staatsphilosophie zu eigen machend kritisiert<br />
<strong>Nietzsche</strong> seine eigene Zeit:<br />
„Jede Philosophie, welche durch ein<br />
politisches Ereigniss das Problem des<br />
Daseins verrückt oder gar gelöst glaubt,<br />
ist eine Spaass- und Afterphilosophie.<br />
Es sind schon öfter, seit die Welt steht,<br />
Staaten gegründet worden; das ist ein<br />
altes Stück. Wie sollte eine politische<br />
Neuerung ausreichen, um die Menschen<br />
ein <strong>für</strong> alle Mal zu vergnügten Erdenbewohnern<br />
zu machen? Glaubt aber jemand<br />
recht von Herzen, dass dies möglich<br />
sei, so soll er sich nur melden: denn<br />
er verdient wahrhaftig, Professor der<br />
Philosophie an einer deutschen Universität<br />
... zu werden.<br />
Hier erleben wir aber die Folgen jener<br />
neuerdings von allen Dächern gepredigten<br />
Lehre, dass der Staat das höchste<br />
Ziel der Menschheit sei, und dass es <strong>für</strong><br />
einen Mann keine höheren Pflichten gebe,<br />
als dem Staate zu dienen: worin ich<br />
nicht einen Rückfall in’s Heidenthum,<br />
sondern in die Dummheit erkenne. Es<br />
mag sein, dass ein solcher Mann, der<br />
im Staatsdienste seine höchste Pflicht<br />
sieht, wirklich auch keine höheren<br />
Pflichten kennt; aber deshalb giebt es<br />
jenseits doch noch Männer und Pflichten<br />
– und eine dieser Pflichten, die mir<br />
wenigstens höher gilt als der Staatsdienst,<br />
fordert auf, die Dummheit in jeder<br />
Gestalt zu zerstören, also auch diese<br />
Dummheit. ... Wie sieht nun der Philosoph<br />
die Cultur in unserer Zeit an?<br />
Sehr anders freilich als jene in ihrem<br />
Staat vergnügten Philosophieprofessoren.<br />
Fast ist es ihm, als ob er die Symptome<br />
einer völligen Ausrottung und<br />
Entwurzelung der Cultur wahrnähme,<br />
wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende<br />
Fallgeschwindigkeit, an das<br />
Aufhören aller Beschaulichkeit und<br />
Simplicität denkt. Die Gewässer der<br />
Religion fluthen ab und lassen Sümpfe<br />
oder Weiher zurück; die Nationen trennen<br />
sich wieder auf das feindseligste<br />
und begehren sich zu zerfleischen. Die<br />
Wissenschaften, ohne jedes Maass und<br />
im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern<br />
und lösen alles Festgeglaubte<br />
auf; die gebildeten Stände und Staaten<br />
werden von einer grossartig verächtlichen<br />
Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals<br />
war die Welt mehr Welt, nie ärmer<br />
an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände<br />
sind nicht mehr Leuchtthürme oder<br />
Asyle inmitten aller dieser Unruhe der<br />
Verweltlichung; sie selbst werden täglich<br />
unruhiger, gedanken- und liebeloser.<br />
Alles dient der kommenden Barbarei,<br />
die jetzige Kunst und Wissenschaft mit<br />
einbegriffen. ...<br />
Wenn es aber einseitig sein sollte, nur<br />
die Schwäche der Linien und die<br />
Stumpfheit der Farben am Bilde des<br />
modernen Lebens hervorzuheben, so ist<br />
jedenfalls die zweite Seite um nichts<br />
erfreulicher, sondern nur um so beun-<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 111