Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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tung der menschlichen Entwicklungsgeschichte<br />
vor. Gleichzeitig leitet der Philosoph<br />
daraus ab, daß das angeblich Seiende<br />
auch so sein soll. In dieser Argumentation<br />
stecken gleich zwei gravierende methodische<br />
Fehler, worauf hier allerdings<br />
nicht mehr näher eingegangen werden<br />
kann. Auffällig sind darüber hinaus die<br />
Parallelen von <strong>Nietzsche</strong>s Auffassung von<br />
der Natur mit den Positionen der Sozialdarwinisten<br />
seiner Zeit. Auch sie sahen<br />
die Entwicklung der menschlichen Geschichte<br />
als durch das Überleben der Stärkeren<br />
geprägt, knüpften deren Eigenschaften<br />
aber an ethnische Kriterien, während<br />
sie <strong>Nietzsche</strong> davon unabhängig rein aus<br />
den Handlungen ableitete.<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Deutung des Christentums<br />
als Religion der Niedrigen und Schwachen<br />
Mit dem von ihm apologetisch beschriebenen<br />
Kampf der Starken und Schwachen<br />
gegeneinander verband sich auch die Ablehnung<br />
des Mitleides, das der Philosoph<br />
als zentrales Merkmal des Christentums<br />
beschrieb. Es stand <strong>für</strong> ihn, so die Ausführungen<br />
in „Der Antichrist“, „im Gegensatz<br />
zu den tonischen Affekten, welche<br />
die Energie des Lebensgefühls erhöhn:<br />
es wirkt depressiv. Man verliert Kraft,<br />
wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden<br />
vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße<br />
an Kraft noch, die an sich schon das<br />
Leiden dem Leben bringt.“ Für <strong>Nietzsche</strong><br />
stellte das Mitleid einen ungesunden und<br />
unnatürlichen Wert dar. Weiter heißt es:<br />
„Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen<br />
das Gesetz der Entwicklung, welches das<br />
Gesetz der Selektion ist.“ 14 Diese Auslese<br />
und Aussonderung der Stärkeren gegenüber<br />
den Schwachen sah der Philosoph<br />
durch das Christentum als Religion des<br />
Mitleids gefährdet. Hierin meinte er, eine<br />
fatale und verderbliche Wirkung <strong>für</strong> die<br />
Entwicklung der Menschheit erkennen zu<br />
können: „Was ist schädlicher als irgendein<br />
Laster? – Das Mitleiden der Tat mit<br />
allen Mißratnen und Schwachen – das<br />
Christentum ...“ 15<br />
Im Umkehrschluß sah <strong>Nietzsche</strong> darin die<br />
Abwertung des Höheren und Starken,<br />
deren Dominanz über die <strong>Gesellschaft</strong> er<br />
als Ausdruck der natürlichen Entwicklung<br />
auffaßte. Gegen diese habe sich die kritisierte<br />
Religion auch in dieser Frage gewandt.<br />
Der Philosoph bemerkt denn auch:<br />
„Man soll das Christentum nicht schmükken<br />
und herausputzen: es hat einen Todkrieg<br />
gegen diesen höheren Typus Mensch<br />
gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses<br />
Typus in Bann getan, es hat aus diesen<br />
Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert<br />
– der starke Mensch als der<br />
typisch Verwerfliche, der ‚verworfene<br />
Mensch‘.“ 16 Mit der Feindschaft des Christentums<br />
gegen den Starken verband sich<br />
<strong>für</strong> den Philosophen auch dessen Feindschaft<br />
gegenüber dem Leben und dessen<br />
zentraler Eigenschaft: den Willen zur<br />
Macht. Weiter heißt es: „Das Leben selbst<br />
gilt mir als Instinkt <strong>für</strong> Wachstum, <strong>für</strong><br />
Dauer, <strong>für</strong> Häufung von Kräften, <strong>für</strong><br />
Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, gibt<br />
es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß<br />
allen obersten Werten der Menschheit dieser<br />
Wille fehlt – daß Niedergangs-Werte,<br />
nihilistische Werte unter den heiligsten<br />
Namen die Herrschaft führen.“ 17<br />
Als Konsequenz aus dieser Auffassung<br />
der Selektion von Starken und Schwachen<br />
forderte <strong>Nietzsche</strong> konsequenterweise<br />
auch die Vernichtung von letzterem: „Die<br />
Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde<br />
gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe.<br />
Und man soll ihnen noch dazu<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 43