Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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lismus sind ihm lediglich höchst lästige<br />
Erscheinungsformen von Fehlwegen der<br />
Vernunft, die es einfach abzuschaffen gelte.<br />
Deshalb befaßt er sich nicht mit all<br />
diesen gesellschaftlichen Phänomenen,<br />
welche die meisten seiner Zeitgenossen<br />
umtreiben, und so wirkt er noch einmal<br />
aus einer ganz anderen Perspektive „unzeitgemäß“<br />
und „romantisch“ – weil er<br />
seine eigene Zeit einfach nicht zur Kenntnis<br />
nimmt! Hier ist denn auch ein Berührungspunkt<br />
mit den Mythen Wagners, die<br />
sich soweit von der realen Wirklichkeit<br />
lösen, daß sie in der Fantasie eine ebensolche<br />
Erlösung zu gewähren scheinen<br />
wie das Jenseits des Christentums gegenüber<br />
dem irdischen Jammertal. Beide,<br />
<strong>Nietzsche</strong> und Wagner, entfremden mit<br />
ihrer „Kunst“ auf je eigene Weise das Individuum<br />
seiner realen Welt ganz ähnlich<br />
wie einst die Religion und wirken so ebenfalls<br />
in Richtung eines „immanenten Dualismus“,<br />
in dem die Welt der „privaten<br />
Heilsvorstellungen“ mit der herrschenden<br />
gesellschaftlichen Realität nicht zur Dekkung<br />
gebracht werden kann. Nur daß man<br />
jetzt nicht mehr in die sonntägliche Kirche<br />
sondern ins Theater geht, oder sich<br />
an den Versprechungen „Zarathustras“<br />
vom Übermenschen berauscht.<br />
Was bleibt<br />
Doch andererseits: Was wäre der Mensch<br />
ohne ein Denken über sich selbst hinaus,<br />
das ihn die Ehrfurcht vor der Schöpfung<br />
lehrt (und das man einst „Religion“ nannte)?<br />
Woran würde er seine besten, aus seiner<br />
Innerlichkeit erwachsenden Bestrebungen<br />
anbinden wenn nicht vermittelt<br />
durch die Kunst, in der er ein über sich<br />
hinausweisendes Bild hinzustellen vermag?<br />
Würden wir uns nicht an einer Welt,<br />
die allein sich aus dem Diesseitswissen<br />
über das jeweils Bestehende aufrichtete,<br />
erkälten? Und so wird selbst der „wissenschaftliche<br />
Mensch“ zuletzt zu der Einsicht<br />
kommen, daß allein durch rationale<br />
Erklärung der Welt noch lange nichts darüber<br />
gesagt ist, was aus dieser Welt einschließlich<br />
der Menschen, deren Entwicklung<br />
ja nicht stehen bleibt, werden soll.<br />
Die Erhellung dessen, was bis zu Dir hin<br />
geworden ist, bildet nur eine Vorstufe <strong>zum</strong><br />
Auftrag des „Werde, der du bist.“ Für die<br />
Frage aber: „Wie weiter an diesem Punkt?“<br />
bedarf es einer Vision über das Tagesgeschehen<br />
und über den Bestand des in der<br />
Menschheit Erreichten hinaus. 30 Und es<br />
bedarf einer Intuition, die sich nicht allein<br />
aus der quantitierenden Häuftelung<br />
des Wissens ergibt. Hierin, in dieser Haltung,<br />
kann uns gerade auch <strong>Nietzsche</strong><br />
Vorbild sein, indem er den Menschen auf<br />
sein je eigenes Werden verpflichtet.<br />
Dazu mag ein Gewährsmann aus dem Jahre<br />
1926 zur Worte kommen, dessen Resümee<br />
bis heute seine Gültigkeit wohl<br />
nicht verloren hat; Johannes M. Verweyen,<br />
Philosophieprofessor und ausgebildeter<br />
Musikus an der Universität Bonn, schreibt<br />
zusammenfassend in seinem Buch Wagner<br />
und <strong>Nietzsche</strong> 31 :<br />
„<strong>Nietzsche</strong> hält sich <strong>für</strong> einen Träger des<br />
Lichtes. Und sicherlich kann er mit vollem<br />
Rechte dem Siegfriedgeschlechte<br />
derer zugezählt werden, welche mit der<br />
Fackel ihrer Erkenntnis in die verborgensten<br />
Schachte der Welt hineinzuleuchten<br />
suchten. Daß der Wille, in das<br />
Gebiet der letzten Dinge erkennend vorzustoßen,<br />
in <strong>Nietzsche</strong> auf ungewöhnliche<br />
Weise ausgeprägt war, davon zeugt<br />
die Fülle seines Schaffens, der seltene<br />
Umfang seiner Werke. Wer sich je vorurteilslos<br />
in sie versenkt, mag viele Ge-<br />
126 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000