Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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<strong>Nietzsche</strong> [der krank angereist war]<br />
hatte sich rasch erholt, und schon <strong>für</strong><br />
den Abend des 5. August kann Cosima<br />
notieren: „Wir verleben einen heiteren<br />
Abend zusammen.“ Am folgenden Tag<br />
dreht sich das Gespräch zunächst um<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Verlegersorgen, die Angriffe<br />
der Presse auf ihn im Gefolge des<br />
Strauß... Am Abend spielt dann Wagner<br />
die Rheintöchter-Szene aus dem<br />
Schluß der Götterdämmerung, und da<br />
hinein platzt nun <strong>Nietzsche</strong> mit dem<br />
Triumphlied von Brahms! Viel ungeschickter<br />
hätte er es nicht anstellen können.<br />
„Richard lacht laut auf, daß Musik<br />
auf das Wort ‚Gerechtigkeit‘ gemacht<br />
würde.“ Dann schweigt man einen<br />
Tag über die Sache. Samstag den<br />
8. August kommt es zur Entscheidung.<br />
„Nachmittags spielen wir“ ... „das<br />
Triumphlied von Brahms, großer<br />
Schrecken über die Dürftigkeit dieser<br />
uns selbst von Freund <strong>Nietzsche</strong> gerühmten<br />
Komposition, Händel, Mendelssohn<br />
und Schumann in Leder gewickelt;<br />
Richard wird sehr böse und<br />
spricht von seiner Sehnsucht, etwas zu<br />
finden in der Musik, auch von der Überlegenheit<br />
des Christus (von Liszt), wo<br />
doch ein Gestaltungstrieb, eine Empfindung,<br />
welche zur Empfindung spreche,<br />
vorhanden sei.“ Abends läßt Wagner<br />
aus Opern von Auber spielen und<br />
<strong>zum</strong> Schluß seinen Kaisermarsch. Damit<br />
scheint die Diskussion um Brahms<br />
beendet.<br />
<strong>Nietzsche</strong> ist noch eine Woche in Bayreuth<br />
und reist am 15. ab, „nachdem er<br />
Richard manche schwere Stunde verursacht.<br />
Unter anderem behauptete er,<br />
keine Freude an der deutschen Sprache<br />
zu finden, lieber lateinisch zu sprechen<br />
usw.“ Es ist also nicht nur das Triumphlied<br />
von Brahms, sondern der Blick in<br />
seine unheilvolle innere Zerrissenheit,<br />
den er den Bayreuthern gewährt, was<br />
hier zu ernsten Bedenken Anlaß gab –<br />
Bedenken, nicht „Bruch“, denn mit tiefem<br />
Mitempfinden nehmen Wagner<br />
und Cosima in den folgenden Tagen den<br />
Bericht Overbecks über die Vereinsamung<br />
ihres Freundes im Kreise seiner<br />
Fachkollegen entgegen. „Der ganze<br />
Bann der Universität liegt auf ihm.“<br />
Davon, daß <strong>Nietzsche</strong> bei diesem Besuch<br />
seine Kompositionen gespielt<br />
habe, erwähnt Cosima im Tagebuch<br />
nichts. Erst 15 Jahre später schreibt sie<br />
an Felix Mottl: „Ein Hymnus an die<br />
Freundschaft hat eigentlich den Bruch<br />
begonnen. Der kam nach Bayreuth und<br />
war sehr traurig...“ Doch, wann „kam“<br />
dieser Hymnus nach Bayreuth? 1874<br />
war er noch nicht ausgeformt. Es wäre<br />
denkbar, daß die endgültige Gestalt,<br />
welche die Komposition im folgenden<br />
Herbst erhielt, auf Kritik und Ratschlägen<br />
Wagners aufgrund der Entwurffassung<br />
beruht. Noch im November<br />
1876 trifft man sich in Sorrent, mindestens<br />
von Wagners Seite in alter Herzlichkeit.<br />
Von „Bruch“ ist da noch nichts<br />
zu spüren, höchstens von Besorgtheit,<br />
wie jetzt, August 1874 schon... Der<br />
„Bruch“ beginnt mit <strong>Nietzsche</strong>s Absage<br />
an die Philosophie Schopenhauers<br />
und seinem Menschliches – All<strong>zum</strong>enschliches,<br />
davor liegt höchstens<br />
eine Entfremdung oder „Befremdung“.<br />
Dagegen schloß sich die Enttäuschung<br />
auf seiten <strong>Nietzsche</strong>s vorwiegend an<br />
das Brahms-Erlebnis an. Plötzlich stand<br />
der hehre „Meister“ aller Hoheit und<br />
„Größe“ entblößt als kleiner eifersüchtiger<br />
Despot da, nicht stark genug, das<br />
Können eines anderen zu würdigen,<br />
56 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000