Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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als Gott anbeten (KSA 4, 388). Auch Zarathustra<br />
schreit laut I-A.<br />
Das Werk endet damit, dass Zarathustra<br />
seinem „großen Mittag“ entgegen geht.<br />
Stilistisch und inhaltlich ist das Buch an<br />
den vier neutestamentlichen Evangelien<br />
orientiert, die es imitiert, parodiert, travestiert.<br />
Im Nachlass nennt <strong>Nietzsche</strong> seinen<br />
Zarathustra auch das „fünfte Evangelium“<br />
oder das „Zarathustra-Evangelium“.<br />
Freilich tritt Zarathustra nicht nur als Erlöser<br />
auf, sondern auch als anderer Moses,<br />
wie das Kapitel „Von alten und neuen<br />
Tafeln“ zeigt (KSA 4, 246 ff.).<br />
Eine tragende Idee, die sich durch das<br />
ganze Werk zieht, beginnend bereits in der<br />
Vorrede, ist die Figur des Übermenschen.<br />
„Ich lehre euch den Übermenschen. Der<br />
Mensch ist etwas, das überwunden werden<br />
soll.“ „Der Übermensch ist der Sinn<br />
der Erde. Euer Wille sage: Der Übermensch<br />
sei der Sinn der Erde!“ (KSA 4,<br />
14) „‚Todt sind alle Götter: nun wollen<br />
wir, dass der Übermensch lebe.’ – dies<br />
sei einst am großen Mittage unser letzter<br />
Wille!“– (KSA 4, 102)<br />
Mein Interpretationsvorschlag lautet: Der<br />
„Übermensch“ ist die mythisierende Vorwegnahme<br />
jenes hochindividualistischen<br />
Menschentyps, der sich – namentlich in<br />
den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts – massenhaft unter uns ausbildet<br />
und ausbreitet.<br />
Selbst wenn die Bezeichnung „Übermensch“<br />
sich nicht durchgesetzt hat, die<br />
damit bezeichnete Gestalt gewinnt zusehends<br />
an gesellschaftlichem Boden. Es ist<br />
ein Individuum – im Sinne <strong>Nietzsche</strong>s<br />
natürlich männlichen Geschlechts –, das<br />
keine verbindlichen Regeln des Zusammenlebens<br />
anerkennt, sondern nur das als<br />
Richtschnur gelten lässt, was es selbst <strong>für</strong><br />
richtig hält.<br />
Der Übermensch ist eine Persönlichkeitsausprägung,<br />
die sich ungehemmt und<br />
rücksichtslos entfalten will. Sie folgt nur<br />
den eigenen Interessen und ist insofern<br />
allein dem Willen zur Macht verpflichtet,<br />
dem Willen zur eigenen Macht, versteht<br />
sich. Das damit verbundene, rebellisch<br />
anmutende Freiheitspathos durchbebt<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Texte auch dort, wo die ominöse<br />
Bezeichnung „Übermensch“ nicht<br />
auftaucht. Es erklärt die Langzeitkonjunktur<br />
seiner Schriften und seine Faszination<br />
gerade in Intellektuellen- und Künstlerkreisen<br />
sowie bei jungen Erwachsenen,<br />
die heute unter den Bedingungen von<br />
Individualisierung und Globalisierung<br />
aufwachsen.<br />
Zum Sinn von Titel und Untertitel<br />
In der Gestalt des iranischen Religionsstifters<br />
Zarathustra suchte und fand <strong>Nietzsche</strong><br />
eine höchste Autorität, die schon zeitlich<br />
hinter die Überlieferungen des Judentums,<br />
des Christentums, der griechischrömischen<br />
Antike sowie auch des Germanentums<br />
zurück reichte. Inhaltlich fühlte<br />
er sich von Zarathustras schroffem Dualismus<br />
zwischen hell und dunkel, gut und<br />
böse angesprochen.<br />
Denn auch <strong>Nietzsche</strong>s eigenes Welt- und<br />
Menschenverständnis ist durch schroffe<br />
Dualismen charakterisiert:<br />
oben und unten,<br />
stark und schwach,<br />
vornehm und niedrig,<br />
Übermensch und Herdenmensch,<br />
Übermensch und letzter Mensch,<br />
wenige und viel zu viele.<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 29