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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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„Wo hört das Thier auf, wo fängt der<br />

Mensch an? Jener Mensch, an dem allein<br />

der Natur gelegen ist! So lange jemand<br />

nach dem Leben wie nach einem<br />

Glücke verlangt, hat er den Blick noch<br />

nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben,<br />

nur dass er mit mehr Bewusstsein<br />

will, was das Thier im blinden<br />

Drange sucht. Aber so geht es uns<br />

Allen, den grössten Theil des Lebens<br />

hindurch: wir kommen <strong>für</strong> gewöhnlich<br />

aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst<br />

sind die Thiere, die sinnlos zu leiden<br />

scheinen.<br />

Aber es giebt Augenblicke, wo wir dies<br />

begreifen: dann zerreissen die Wolken,<br />

und wir sehen, wie wir sammt aller<br />

Natur uns <strong>zum</strong> Menschen hindrängen,<br />

als zu einem Etwas, das hoch über uns<br />

steht.“<br />

„Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken,<br />

wie die weitläuftigsten Anstalten<br />

unseres Lebens nur gemacht werden,<br />

um vor unserer eigentlichen Aufgabe<br />

zu fliehen, wie wir gerne irgendwo<br />

unser Haupt verstecken möchten, als<br />

ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen<br />

nicht erhaschen könnte, wie wir<br />

unser Herz an den Staat, den Geldgewinn,<br />

die Geselligkeit oder die Wissenschaft<br />

hastig wegschenken, bloss um es<br />

nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst<br />

der schweren Tagesarbeit hitziger und<br />

besinnungsloser fröhnen, als nöthig<br />

wäre um zu leben: weil es uns nöthiger<br />

scheint, nicht zur Besinnung zu kommen.<br />

Allgemein ist die Hast, weil jeder<br />

auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein<br />

auch das scheue Verbergen dieser<br />

Hast, weil man zufrieden scheinen will<br />

und die scharfsichtigeren Zuschauer<br />

über sein Elend täuschen möchte, allgemein<br />

das Bedürfniss nach neuen klingenden<br />

Wort-Schellen, mit denen behängt<br />

das Leben etwas Lärmend-Festliches<br />

bekommen soll.“<br />

Wer allein kann nach <strong>Nietzsche</strong>s Meinung<br />

in dieser Situation helfen?<br />

„Das sind jene wahrhaften Menschen,<br />

jene Nichtmehr-Thiere, die Philosophen,<br />

Künstler und Heiligen 22 ; bei ihrem<br />

Erscheinen und durch ihr Erscheinen<br />

macht die Natur, die nie springt,<br />

ihren einzigen Sprung und zwar einen<br />

Freudesprung, denn sie fühlt sich <strong>zum</strong><br />

ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo<br />

sie begreift, dass sie verlernen müsse,<br />

Ziele zu haben und dass sie das Spiel<br />

des Lebens und Werdens zu hoch gespielt<br />

habe. Sie verklärt sich bei dieser<br />

Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit,<br />

das, was die Menschen ‚die<br />

Schönheit‘ nennen, ruht auf ihrem Gesichte.<br />

Was sie jetzt, mit diesen verklärten<br />

Mienen ausspricht, das ist die grosse<br />

Aufklärung über das Dasein; und der<br />

höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen<br />

können, ist, andauernd und offnen<br />

Ohr’s an dieser Aufklärung theilzunehmen.“<br />

Deutlich zu sehen ist hier der „Große Mittag“<br />

und der „Übermensch“ des Zarathustra<br />

bereits vorgeprägt. Und seinen Mitbürgern,<br />

denen er erbarmungslos den Spiegel<br />

vorhält – später die „letzten Menschen“<br />

geheißen – wird hier schon ihre Aufgabe<br />

zugewiesen:<br />

„Jene neuen Pflichten sind nicht die<br />

Pflichten eines Vereinsamten, man gehört<br />

vielmehr mit ihnen in eine mächtige<br />

Gemeinsamkeit hinein, welche zwar<br />

nicht durch äusserliche Formen und Ge-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 113

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