14.11.2013 Aufrufe

Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

nämlich die Natur tödten, zerlegen und<br />

verstehen, die ersteren wollen die Natur<br />

durch neue lebendige Natur vermehren;<br />

und so giebt es einen Widerstreit<br />

der Gesinnungen und Thätigkeiten.<br />

Ganz beglückte Zeiten brauchten den<br />

Gelehrten nicht und kannten ihn nicht,<br />

ganz erkrankte und verdrossene Zeiten<br />

schätzten ihn als den höchsten und würdigsten<br />

Menschen und gaben ihm den<br />

ersten Rang.“<br />

So richtig hier viele Einzelzüge gesehen<br />

werden, so falsch wird dann gewertet –<br />

<strong>Nietzsche</strong> läßt sich von einem elitären Individualismus<br />

leiten und übersieht völlig<br />

die fruchtbaren Leistungen, die sich aus<br />

der vertikalen und horizontalen Zusammenarbeit<br />

im Wissenschaftsbetrieb wie<br />

überhaupt in der <strong>Gesellschaft</strong> ergeben.<br />

„Der Gelehrte“, wie <strong>Nietzsche</strong> ihn in der<br />

Anhäufung von Negativurteilen verunglimpft,<br />

ist eine in der Realität höchst selten<br />

vorkommende Karikatur; statt seine<br />

professoralen Kollegen zu verstehen zu<br />

suchen hat er sie verzeichnet, um auf diesen<br />

selbstgebauten Popanz einschlagen zu<br />

können – und in jenen „beglückten Zeiten“<br />

ohne Gelehrte, die er ohne Nachweis<br />

unterstellt, hätte er selbst seinen Lebensunterhalt<br />

nicht verdienen können. Auch<br />

war er merkwürdigerweise jenen führenden<br />

Basler Kreisen, die ihm seine Gelehrtenkarriere<br />

und seine Pension ermöglichten,<br />

nicht zu Unrecht zeitlebens dankbar.<br />

Wo so vieles aus dem „natürlichen“ Verlauf<br />

heraus <strong>zum</strong> Schlechten steht, erhebt<br />

sich die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit<br />

der Natur innerhalb der Kultur:<br />

„Was müsste man einem werdenden<br />

Philosophen gegenwärtig wünschen und<br />

nöthigenfalls verschaffen, damit er überhaupt<br />

Athem schöpfen könne und es im<br />

günstigsten Falle zu der, gewiss nicht<br />

leichten, aber wenigstens möglichen<br />

Existenz Schopenhauers bringe? Was<br />

wäre ausserdem zu erfinden, um seiner<br />

Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr<br />

Wahrscheinlichkeit zu geben? Und welche<br />

Hindernisse müssten weggeräumt<br />

werden, damit vor allem sein Vorbild zur<br />

vollen Wirkung komme, damit der Philosoph<br />

wieder Philosophen erziehe?<br />

Hier verläuft sich unsre Betrachtung in<br />

das Praktische und Anstössige.<br />

Die Natur will immer gemeinnützig<br />

sein, aber sie versteht es nicht zu diesem<br />

Zwecke die besten und geschicktesten<br />

Mittel und Handhaben zu finden:<br />

das ist ihr grosses Leiden, deshalb ist<br />

sie melancholisch. Dass sie den Menschen<br />

durch die Erzeugung des Philosophen<br />

und des Künstlers das Dasein<br />

deutsam und bedeutsam machen wollte,<br />

das ist bei ihrem eignen erlösungsbedürftigen<br />

Drange gewiss; aber wie ungewiss,<br />

wie schwach und matt ist die<br />

Wirkung, welche sie meisthin mit den<br />

Philosophen und Künstlern erreicht!<br />

Wie selten bringt sie es überhaupt zu<br />

einer Wirkung! Besonders in Hinsicht<br />

des Philosophen ist ihre Verlegenheit<br />

gross, ihn gemeinnützig anzuwenden;<br />

ihre Mittel scheinen nur Tastversuche,<br />

zufällige Einfälle zu sein, so dass es ihr<br />

mit ihrer Absicht unzählige Male misslingt<br />

und die meisten Philosophen nicht<br />

gemeinnützig werden. Das Verfahren<br />

der Natur sieht wie Verschwendung aus;<br />

doch ist es nicht die Verschwendung<br />

einer frevelhaften Üppigkeit, sondern<br />

der Unerfahrenheit; es ist anzunehmen,<br />

dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus<br />

dem Ärger über sich und ihr Ungeschick<br />

gar nicht herauskommen würde. Die<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 119

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!