Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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genblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine<br />
Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt,<br />
ein Druck, der uns träumen macht, beinahe<br />
ein Alpdruck –, aber schon breitet und weitet<br />
sich wieder der alte Strom von Behagen aus,<br />
von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem<br />
Glück, sehr eingerechnet das Glück des<br />
Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl<br />
haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen<br />
um die Meisterschaft seiner hier verwendeten<br />
Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter<br />
Kunstmittel, wie er uns zu verraten scheint. Alles<br />
in allem keine Schönheit, kein Süden, nichts<br />
von südlicher feiner Helligkeit des Himmels,<br />
nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille<br />
zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die<br />
noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler<br />
uns sagen wollte: »sie gehört zu meiner Absicht«;<br />
eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches<br />
und Feierliches, ein Geflirr von<br />
gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und<br />
Spitzen: etwas Deutsches, im besten und<br />
schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche<br />
Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches;<br />
eine gewisse deutsche Mächtigkeit<br />
und Überfülle der Seele, welche keine Furcht<br />
hat, sich unter die Raffinements des Verfalls zu<br />
verstecken – die sich dort vielleicht erst am<br />
wohlsten fühlt; ein rechtes echtes Wahrzeichen<br />
der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet,<br />
übermürbe und überreich noch an Zukunft<br />
ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was<br />
ich von den Deutschen halte: sie sind von vorgestern<br />
und von übermorgen – sie haben noch<br />
kein Heute.<br />
17<br />
Schlechta, FN Werke IV, S. 661<br />
18<br />
Auch im Entwurf eines Antwortbriefes an<br />
von Bülow vom Oktober 1872 zeigt sich <strong>Nietzsche</strong><br />
reuig:<br />
„Dabei ist mir nun leider klar, daß das Ganze<br />
samt dieser Mischung von Pathos und Bosheit,<br />
einer wirklichen Stimmung absolut entsprach<br />
und daß ich an der Niederschrift ein Vergnügen<br />
empfand, wie bei nichts Früherem. Es steht demnach<br />
recht traurig um meine Musik und noch<br />
mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet<br />
man einen Zustand, in dem Lust, Verachtung,<br />
Übermut, Erhabenheit durcheinandergeraten<br />
sind? – Hier und da verfalle ich in dies gefährliche<br />
mondsüchtige Gebiet.– ... Von meiner Musik<br />
weiß ich nur eins, daß ich damit Herr über<br />
eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht<br />
schädlicher ist. ... Und gerade diese verzweifelte<br />
Kontrapunktik muß mein Gefühl in dem Grade<br />
verwirrt haben, daß ich absolut urteilslos geworden<br />
war. ... – ein höchst bedauerlicher Zustand,<br />
aus dem Sie mich jetzt gerettet haben.<br />
Haben Sie Dank!“ (Schlechta, FN Werke IV, S.<br />
667 f.)<br />
19<br />
Janz I, S. 580<br />
20<br />
Janz I, S. 598 ff.<br />
21<br />
Briefwechsel mit Rohde, S. 407 f.<br />
22<br />
Ross, S. 219<br />
23<br />
Schlechta, FN Werke IV, S. 781<br />
24<br />
<strong>Friedrich</strong> <strong>Nietzsche</strong> – Paul Rée – Lou von<br />
Salomé, Die Dokumente ihrer Begegnung, Hg.<br />
E. Pfeiffer, Insel Verlag, Frankfurt/M. 1970, S.<br />
231<br />
<strong>Nietzsche</strong> war vom 7.-26. August 1882 zusammen<br />
mit Lou in Tautenburg, wo sie sich, wenn<br />
es die Gesundheit <strong>Nietzsche</strong>s zuließ, fast täglich<br />
trafen und intensiv philosophische Themen<br />
diskutierten. Das Gedicht hatte <strong>Nietzsche</strong> von<br />
Lou beim Abschied erhalten, entstanden ist es<br />
aber bereits etwas früher bei der Ankunft in Zürich,<br />
nachdem Lou ihre russische Heimat verlassen<br />
hatte. Wie <strong>Nietzsche</strong> Lou mit Brief vom<br />
1. September mitteilt, hat er das Gedicht in<br />
Naumburg sogleich komponiert, und zwar nur<br />
die ersten beiden Verse, wobei er das Versmaß,<br />
geringfügig veränderte, um es seinem Hymnus<br />
an die Freundschaft anzupassen. Hier der Text<br />
des Gebets an das Leben von Lou Salomé, das<br />
<strong>Nietzsche</strong> mit seinem Hymnus vertonte (zuerst<br />
die Originalfassung Lous, dann der von <strong>Nietzsche</strong><br />
angepaßte Text):<br />
Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,<br />
Wie ich Dich liebe, Rätselleben –<br />
Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,<br />
Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben.<br />
Ich liebe Dich samt Deinem Harme;<br />
Und wenn Du mich vernichten mußt,<br />
Entreiße ich mich Deinem Arme,<br />
Wie Freund reißt sich von Freundesbrust.<br />
Mit ganzer Kraft umfaß ich Dich!<br />
Laß Deine Flammen mich entzünden,<br />
Laß noch in Glut des Kampfes mich<br />
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 67