Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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Er weiß darum, daß neue Wahrheiten nie<br />
mit der Macht und mit der Masse, sondern<br />
immer nur gegen diese erworben werden<br />
– Unbeliebtheit und Vereinsamung<br />
sind das zu akzeptierende Los solcher Einzelner,<br />
wie es etwa Hölderlin und Kleist<br />
erfahren mußten:<br />
„Doch giebt es immer wieder einen Halbgott,<br />
der es erträgt, unter so schrecklichen<br />
Bedingungen zu leben, siegreich<br />
zu leben; und wenn ihr seine einsamen<br />
Gesänge hören wollt, so hört Beethoven’s<br />
Musik.<br />
Das war die erste Gefahr, in deren Schatten<br />
Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung.<br />
Die zweite heisst: Verzweiflung<br />
an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet<br />
jeden Denker, welcher von der<br />
Kantischen Philosophie aus seinen Weg<br />
nimmt, vorausgesetzt dass er ein kräftiger<br />
und ganzer Mensch in Leiden und<br />
Begehren sei und nicht nur eine klappernde<br />
Denk- und Rechenmaschine.<br />
Nun ... scheint mir, als ob überhaupt nur<br />
bei den wenigsten Menschen Kant lebendig<br />
eingegriffen und Blut und Säfte<br />
umgestaltet habe. Zwar soll, wie man<br />
überall lesen kann, seit der That dieses<br />
stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten<br />
eine Revolution ausgebrochen<br />
sein; aber ich kann es nicht glauben.<br />
Denn ich sehe es den Menschen nicht<br />
deutlich an, als welche vor Allem selbst<br />
revolutionirt sein müssten, bevor irgend<br />
welche ganze Gebiete es sein könnten.<br />
Sobald aber Kant anfangen sollte, eine<br />
populäre Wirkung auszuüben, so werden<br />
wir diese in der Form eines zernagenden<br />
und zerbröckelnden Skepticismus<br />
und Relativismus gewahr werden;<br />
und nur bei den thätigsten und edelsten<br />
Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten<br />
haben, würde an seiner Stelle<br />
jene Erschütterung und Verzweiflung an<br />
aller Wahrheit eintreten, wie sie <strong>zum</strong><br />
Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung<br />
der Kantischen Philosophie erlebte.“<br />
Nun, heute sind diese relativierenden Wirkungen,<br />
die bei Kant ihren Ausgang nahmen,<br />
wohl Wirklichkeit geworden: Selten<br />
wurde der Skeptizismus so positiv bewertet<br />
wie heute, und das „Anything goes“<br />
von Paul Feyerabend erfreut sich derartiger<br />
Popularität, daß es sich die Jugend als<br />
Motto auf die Hemdbrust bügelt. Der „Pluralismus“<br />
(den <strong>Nietzsche</strong> individuell im<br />
Polyperspektivismus durchdenkt), ein sicherlich<br />
notwendiges Stadium, wird <strong>zum</strong><br />
Ziel erhoben, weil es an der Kraft fehlt,<br />
die menschliche Existenz als Ganzes zu<br />
sehen:<br />
„Das ist seine [Schopenhauers] Grösse,<br />
dass er dem Bilde des Lebens als einem<br />
Ganzen sich gegenüberstellte, um es als<br />
Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten<br />
Köpfe nicht von dem Irrthum<br />
zu befreien sind, dass man dieser Deutung<br />
näher komme, wenn man die Farben,<br />
womit, den Stoff, worauf dieses<br />
Bild gemalt ist, peinlich untersuche;<br />
vielleicht mit dem Ergebniss, es sei eine<br />
ganz intrikat gesponnene Leinewand<br />
und Farben darauf, die chemisch unergründlich<br />
seien. Man muss den Maler<br />
errathen, um das Bild zu verstehen, –<br />
das wusste Schopenhauer. Nun ist aber<br />
die ganze Zunft aller Wissenschaften<br />
darauf aus, jene Leinewand und jene<br />
Farben, aber nicht das Bild zu verstehen;<br />
ja man kann sagen, dass nur der,<br />
welcher das allgemeine Gemälde des<br />
Lebens und Daseins fest in’s Auge ge-<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 109