Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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zur Naivität des Südens das Bedürfnis und die<br />
Gabe der Melodie hat. Der Verfall des melodischen<br />
Sinns, den ich bei jeder Berührung mit<br />
deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer<br />
größere Aufmerksamkeit auf die einzelne<br />
Gebärde des Affekts ..., ebenfalls die immer größere<br />
Fertigkeit im Vortrage des einzelnen, in den<br />
rhetorischen Kunstmitteln der Musik, in der<br />
Schauspieler-Kunst, den Moment so überzeugend<br />
wie möglich zu gestalten: das, scheint mir,<br />
verträgt sich nicht nur miteinander, es bedingt<br />
sich beinahe gegenseitig. Schlimm genug! muß<br />
man eben alles Gute in dieser Welt etwas zu teuer<br />
kaufen! Das Wagnersche Wort ‚unendliche<br />
Melodie‘ drückt die Gefahr, den Verderb des<br />
Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen<br />
dabei allerliebst aus. Die rhythmische<br />
Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und<br />
wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist<br />
ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem<br />
wunderbare Wirkungen erreicht werden können:<br />
der ‚Tristan‘ ist reich daran –, als Symptom einer<br />
ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das<br />
Zeichen der Auflösung. Der Teil wird Herr über<br />
das Ganze, die Phrase über die Melodie, der<br />
Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das<br />
Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie<br />
es heißen soll –) schließlich auch der esprit über<br />
den ‚Sinn‘. Verzeihung! was ich wahrzunehmen<br />
glaube, ist eine Veränderung der Perspektive:<br />
man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht<br />
das Ganze viel zu stumpf – und man hat den<br />
Willen zu dieser Optik in der Musik, vor allem<br />
man hat das Talent dazu! Das aber ist decadence,<br />
ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht,<br />
nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen<br />
soll.“<br />
14<br />
Schlechta, FN Werke IV, S. 904 f.; am 26.<br />
August 1888 aus Sils. Mit C. Fuchs diskutierte<br />
<strong>Nietzsche</strong> brieflich insbesondere über den Unterschied<br />
zwischen antiker und moderner Rhythmik,<br />
woraus sich auch heute noch mancher<br />
Schluß ziehen lassen möchte.<br />
15<br />
Fr. <strong>Nietzsche</strong>, Die Fröhliche Wissenschaft Nr.<br />
279, Kröner Verlag Stuttgart, 6. Aufl. 1976, S.<br />
183<br />
Sternen-Freundschaft. – Wir waren Freunde und<br />
sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so,<br />
und wir wollen’s uns nicht verhehlen und verdunkeln,<br />
als ob wir uns dessen zu schämen hätten.<br />
Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel<br />
und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen<br />
und ein Fest miteinander feiern, wie wir es<br />
getan haben, – und dann lagen die braven Schiffe<br />
so ruhig in einem Hafen und in einer Sonne,<br />
daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele<br />
und hätten ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns<br />
die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder<br />
auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche,<br />
und vielleicht sehen wir uns nie wieder<br />
– vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen<br />
uns nicht wieder: die verschiedenen<br />
Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir<br />
uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über<br />
uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger<br />
werden! Eben dadurch soll der Gedanke<br />
an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden!<br />
Es gibt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare<br />
Kurve und Sternenbahn, in der unsere<br />
so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine<br />
Wegstrecken einbegriffen sein mögen – erheben<br />
wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben<br />
ist zu kurz und unsre Sehkraft zu gering, als daß<br />
wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen<br />
Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir<br />
an unsre Sternen-Freundschaft glauben, selbst<br />
wenn wir einander Erden-Feinde sein müßten.<br />
16<br />
Jenseits von Gut und Böse Nr. 240, Fr. <strong>Nietzsche</strong>,<br />
Werke II, Hg. Ivo Frenzel, Hanser Verlag<br />
München, S. 128:<br />
Ich hörte, wieder einmal <strong>zum</strong> ersten Male – Richard<br />
Wagners Ouvertüre zu den Meistersingern:<br />
das ist eine prachtvolle, überladne, schwere und<br />
späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständnisse<br />
zwei Jahrhunderte Musik als noch<br />
lebendig vorauszusetzen – es ehrt die Deutschen,<br />
daß sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was<br />
<strong>für</strong> Säfte und Kräfte, was <strong>für</strong> Jahreszeiten und<br />
Himmelsstriche sind hier nicht gemischt! Das<br />
mutet uns bald altertümlich, bald fremd, herb<br />
und überjung an, das ist ebenso willkürlich als<br />
pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten<br />
schelmisch, noch öfter derb und grob – das hat<br />
Feuer und Mut und zugleich die schlaffe falbe<br />
Haut von Früchten, welche zu spät reif werden.<br />
Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Au-<br />
66 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000