Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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sche Sonaten. Sein Freund von Gersdorff<br />
schreibt in seinen Erinnerungen 3 : „Seine<br />
Improvisationen (in der Pfortenser Zeit)<br />
sind mir unvergeßlich; ich möchte glauben,<br />
selbst Beethoven habe nicht ergreifender<br />
phantasieren können, als <strong>Nietzsche</strong>,<br />
namentlich, wenn ein Gewitter am Himmel<br />
stand.“ (!) In Bonn 1864/65, wo er<br />
sein Philologiestudium beginnt, hat er offenbar<br />
viel Zeit <strong>für</strong> Theater und Konzert,<br />
wie seine Übersicht der verschiedenen<br />
Aufführungen zeigt, gleichzeitig ist er<br />
weiter eifrig am Komponieren – insbesondere<br />
die Puschkin- und Petöfi-Vertonungen<br />
entstehen um diese Zeit. In Anbetracht<br />
all dieser Umstände galt er bei seinen<br />
Kommilitonen als musikalische Autorität.<br />
Und nicht nur das: In Leipzig wurde ihm<br />
in seiner Studienzeit 1868 gar das Opern-<br />
Feuilleton einer Zeitung angetragen.<br />
Grundsätzlich – so jedenfalls meine eigene<br />
interpretierende Hörerfahrung – unterscheidet<br />
sich der „Komponist <strong>Nietzsche</strong>“<br />
von anderen „ernsthaften“ Komponisten<br />
insbesondere dadurch: letztere arbeiten an<br />
der musikalischen Idee, bis sie diese in<br />
angemessener Form in ein objektiviertes<br />
Werk übersetzt, dieses „aus sich heraus“<br />
gestellt und zu musikalischem Eigenleben<br />
geführt haben. Für <strong>Nietzsche</strong> ist musikalisches<br />
Schaffen – wie auch das Hören –<br />
immer direkter Existenz-Ausdruck, seine<br />
Musik gibt subjektive Stimmungen wieder:<br />
Das Leben ist ohne Musik <strong>für</strong> ihn ein<br />
Irrtum, wie er sich einmal ausdrückt 4 . So<br />
wird er <strong>zum</strong> Komponieren oder deren Umarbeitungen<br />
nicht grundleitend von einer<br />
inneren Idee her angetrieben, vielmehr<br />
bedarf es neben der entsprechenden „Gestimmtheit“<br />
meist auch eines äußeren Anlasses,<br />
wie wir es etwa bei den verschiedenen<br />
Widmungen, etwa in der Familie<br />
oder an Cosima Wagner, oder am „Lebensgebet“<br />
Lou Salomés sehen.<br />
Werner Ross 5 , einer seiner Biografen,<br />
drückt diesen Sachverhalt so aus: „Ebenso<br />
zweifellos war <strong>Nietzsche</strong> ein musikalisches<br />
Naturtalent. Er mußte in der Musik<br />
einen Teil seiner Mission sehen, in der<br />
Parteinahme <strong>für</strong> Dionysos und Schopenhauer<br />
zugleich ihr Lob, in seinem Klavierspiel<br />
den Beweis <strong>für</strong> seine Theorie. Eben<br />
weil Musik ihm zufloß und in ihm überfloß,<br />
war er kaum imstande zu verstehen,<br />
was Komponieren als Arbeit heißt ...“<br />
Lassen wir zu den <strong>Nietzsche</strong>schen Kompositionen<br />
Fritz Schleicher, den langjährigen<br />
Feuilletonisten der Nürnberger<br />
Nachrichten, zu Worte kommen, der 1981<br />
über das eingangs genannte Konzert von<br />
Fischer-Dieskau und Reimann so berichtete:<br />
„Hier, wo sich der handwerklich wenig<br />
geschulte Amateur-Komponist in<br />
seiner Sensibilität vom Wort leiten lassen<br />
konnte, gelangen ihm phantasievolle,<br />
melodisch wie harmonisch einprägsame<br />
Schöpfungen. ... [Er] spricht ...<br />
eine unmittelbare Tonsprache, erreicht<br />
Schönheiten, die an sein Vorbild Schumann<br />
erinnern und Kühnheiten, deren<br />
diagnostischer Blick Mahler vorausahnen<br />
läßt.<br />
<strong>Nietzsche</strong>s Musik offenbart seine<br />
schöpferische Sehnsucht, seine künstlerische<br />
Aktivität. Der denkwürdige<br />
Abend ... zeigte auch den komplizierten,<br />
von Skepsis und vernichtenden<br />
Urteilen begleiteten Prozeß, in sich den<br />
inneren Musiker frei<strong>zum</strong>achen und <strong>zum</strong><br />
Singen zu bringen.<br />
Der die Geburt der Tragödie aus dem<br />
Geist der Musik ableitete, der in Brie-<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 53