Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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uhigender. Es sind gewiss Kräfte da,<br />
ungeheure Kräfte, aber wilde, ursprüngliche<br />
und ganz und gar unbarmherzige.<br />
Man sieht mit banger Erwartung auf sie<br />
hin wie in den Braukessel einer Hexenküche:<br />
es kann jeden Augenblick zukken<br />
und blitzen, schreckliche Erscheinungen<br />
anzukündigen. ... Dass die Einzelnen<br />
sich so gebärden, als ob sie von<br />
allen diesen Besorgnissen nichts wüssten,<br />
macht uns nicht irre: ihre Unruhe<br />
zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie<br />
denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit<br />
an sich, wie noch nie Menschen<br />
an sich gedacht haben, sie bauen und<br />
pflanzen <strong>für</strong> ihren Tag, und die Jagd<br />
nach Glück wird nie grösser sein als<br />
wenn es zwischen heute und morgen<br />
erhascht werden muss: weil übermorgen<br />
vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu<br />
Ende ist. Wir leben die Periode der Atome,<br />
des atomistischen Chaos. ...<br />
Also, unverhohlen gesprochen: es ist<br />
nöthig, dass wir einmal recht böse werden,<br />
damit es besser wird. Und hierzu<br />
soll uns das Bild des Schopenhauerischen<br />
Menschen ermuthigen. Der Schopenhauerische<br />
Mensch nimmt das freiwillige<br />
Leiden der Wahrhaftigkeit auf<br />
sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen<br />
Eigenwillen zu ertödten und jene<br />
völlige Umwälzung und Umkehrung<br />
seines Wesens vorzubereiten, zu der zu<br />
führen der eigentliche Sinn des Lebens<br />
ist. Dieses Heraussagen des Wahren erscheint<br />
den andern Menschen als Ausfluss<br />
der Bosheit, denn sie halten die<br />
Conservirung ihrer Halbheiten und<br />
Flausen <strong>für</strong> eine Pflicht der Menschlichkeit<br />
und meinen, man müsse böse sein,<br />
um ihnen also ihr Spielwerk zu zerstören.<br />
... Aber es giebt eine Art zu verneinen<br />
und zu zerstören, welche gerade der<br />
Ausfluss jener mächtigen Sehnsucht<br />
nach Heiligung und Errettung ist, als<br />
deren erster philosophischer Lehrer<br />
Schopenhauer unter uns entheiligte und<br />
recht eigentlich verweltlichte Menschen<br />
trat. Alles Dasein, welches verneint werden<br />
kann, verdient es auch, verneint zu<br />
werden; und wahrhaftig sein heisst an<br />
ein Dasein glauben, welches überhaupt<br />
nicht verneint werden könnte und welches<br />
selber wahr und ohne Lüge ist.<br />
Deshalb empfindet der Wahrhaftige den<br />
Sinn seiner Thätigkeit als einen metaphysischen,<br />
aus Gesetzen eines andern<br />
und höhern Lebens erklärbaren und im<br />
tiefsten Verstande bejahenden: so sehr<br />
auch alles, was er thut, als ein Zerstören<br />
und Zerbrechen der Gesetze dieses<br />
Lebens erscheint. Dabei muss sein Thun<br />
zu einem andauernden Leiden werden,<br />
aber er weiss, was auch Meister Eckhard<br />
weiss: ‚das schnellste Thier, das<br />
euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden‘.<br />
Ich sollte denken, es müsste jedem,<br />
der sich eine solche Lebensrichtung<br />
vor die Seele stellt, das Herz weit<br />
werden und in ihm ein heisses Verlangen<br />
entstehen, ein solcher Schopenhauerischer<br />
Mensch zu sein: also <strong>für</strong> sich<br />
und sein persönliches Wohl rein und von<br />
wundersamer Gelassenheit, in seinem<br />
Erkennen voll starken verzehrenden<br />
Feuers und weit entfernt von der kalten<br />
und verächtlichen Neutralität des sogenannten<br />
wissenschaftlichen Menschen.“<br />
Es ist der heroische Genius, der alles Bestehende<br />
verneint, im Gegensatz zu Schopenhauer<br />
führt die Verneinung aber nicht<br />
zu einer Abtötung des Willens, sondern<br />
zur eigentlichen Tätigkeit: den zerstreuten<br />
und unfertigen Menschen zu dem Ziele<br />
zu führen, das Natur mit ihm im Sinn hat:<br />
112 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000