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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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die christliche Kirche mit ihren Stellungnahmen<br />

weder im 19. Jahrhundert noch<br />

zuvor Partei <strong>für</strong> die Schwachen und Unterdrückten.<br />

Zwar trat man theologisch <strong>für</strong><br />

sie ein, aber nur selten <strong>für</strong> ihre politischen<br />

und sozialen Rechte. Vielmehr trug die<br />

Kirche zur ideologischen Absicherung der<br />

jeweiligen Herrschaft bei und vertröstete<br />

die Niedrigen auf ihre Erlösung im jenseitigen<br />

Paradies. <strong>Nietzsche</strong>s Kritik richtete<br />

sich denn auch nicht gegen die diesbezüglichen<br />

Praktiken der christlichen<br />

Kirche, sondern gegen eine bestimmte<br />

theologische Auffassung. In „Der Antichrist“<br />

heißt es: „Die ‚Gleichheit der Seelen<br />

vor Gott, diese Falschheit, dieser Vorwand<br />

<strong>für</strong> die rancunes aller Niedriggesinnten,<br />

dieser Sprengstoff von Begriff,<br />

der endlich Revolution, moderne Idee und<br />

Niedergangs-Prinzip der ganzen <strong>Gesellschaft</strong>s-Ordnung<br />

geworden ist – ist christlicher<br />

Dynamit.“ 22 Obwohl die kritisierte<br />

Auffassung lediglich <strong>für</strong> den geistigen<br />

Bereich und nicht <strong>für</strong> den weltlichen Bereich<br />

gemeint war – rechtfertigte das Neue<br />

Testament doch ebenso wie die christliche<br />

Kirche bis in die Neuzeit hinein die<br />

Sklaverei – sah <strong>Nietzsche</strong> hierin politischen<br />

Sprengstoff.<br />

Die politische Dimension von <strong>Nietzsche</strong>s<br />

Kritik am Christentum<br />

Noch deutlicher zeigt sich diese Dimension<br />

in den folgenden Sätzen aus den<br />

Nachlaß der achtziger Jahre: „Ein anderer<br />

christlicher, nicht weniger verrückter<br />

Begriff hat sich noch weit tiefer ins Fleisch<br />

der Modernität vererbt: der Begriff von der<br />

‚Gleichheit der Seelen vor Gott‘. In ihm<br />

ist der Prototyp aller Theorien der gleichen<br />

Rechte gegeben: man hat die<br />

Menschheit den Satz von der Gleichheit<br />

erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr<br />

später eine Moral daraus gemacht: was<br />

Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn<br />

ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen!<br />

– will sagen politisch, demokratisch,<br />

sozialistisch – entrüstungs-pessimistisch.“<br />

23 Gerade im letzten Satz offenbart<br />

sich deutlich die politische Dimension<br />

von <strong>Nietzsche</strong>s Kritik des Christentums,<br />

das er als einen verderblichen Wegbereiter<br />

<strong>für</strong> die Demokratie ansah. Als<br />

Anhänger einer autoritär geführten und<br />

hierarchisch gegliederten <strong>Gesellschaft</strong>sordnung,<br />

die auf der ungleichen Verteilung<br />

von Rechten und der kulturellen<br />

Rechtfertigung der Sklaverei basieren sollte,<br />

mußte <strong>Nietzsche</strong> notwendigerweise<br />

selbst in dem nur theologisch gemeinten<br />

Gleichheitspostulat eine Gefahr <strong>für</strong> eine<br />

solche Herrschaftsform der Starken erblikken.<br />

Auch diese leitete er aus einer selektiven<br />

Interpretation der Geschichte als eine der<br />

Natur entsprechende <strong>Gesellschaft</strong>sordnung<br />

ab. In „Der Antichrist“ heißt es mit<br />

Verweis auf das von ihm bevorzugte Kasten-Modell:<br />

„Die Ordnung der Kasten,<br />

das oberste, das dominierende Gesetz, ist<br />

nur die Sanktion einer Natur-Ordnung,<br />

Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über<br />

die keine Willkür, keine ‚moderne Idee‘<br />

Gewalt hat.“ 24 Die politische Macht einer<br />

Elite sah der Philosoph somit nicht als<br />

Resultat sozialer Kräfteverhältnisse an,<br />

sondern biologisierte sie zu einer unveränderbaren<br />

Notwendigkeit. Christentum,<br />

Demokratie und Gleichheit schienen ihm<br />

gleichermaßen Ausdruck eines unnatürlichen<br />

und verderblichen Denkens zu sein.<br />

In dieser Frontstellung kann denn auch<br />

eines der zentralen Motive bei der Kritik<br />

an der christlichen Religion gesehen werden.<br />

Ihre – zu seiner Zeit primär theologisch<br />

und noch nicht einmal politisch ge-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 45

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