Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
willen hielt <strong>Nietzsche</strong> die Sklaverei somit<br />
<strong>für</strong> eine gesellschaftliche Notwendigkeit.<br />
Er ging aber noch darüber hinaus und forderte<br />
nicht nur Ausbeutung und Unterwerfung,<br />
sondern auch den Untergang und die<br />
Vernichtung des Schwachen. In „Der<br />
Antichrist“ heißt es: „Die Schwachen und<br />
Mißratenen sollen zugrunde gehn: erste<br />
Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll<br />
ihnen noch dazu helfen.“ 32 Dem gegenüber<br />
habe das Christentum die Partei der<br />
Niedrigen und Schwachen ergriffen und<br />
aus der daran geübten Moral-Kritik leitete<br />
<strong>Nietzsche</strong> auch seine Ablehnung des<br />
Christentums ab. Entgegen einer weit verbreiteten<br />
Auffassung basierte sie somit<br />
keineswegs auf einer grundlegenden Religionskritik.<br />
Nicht die Religion, sondern<br />
die Moral des Christentums störte <strong>Nietzsche</strong>.<br />
Von daher läßt er sich auch schwerlich<br />
in die Ahnengalerie des humanistischen<br />
Atheismus aufnehmen. 33<br />
Dies veranschaulichen auch weitere Vernichtungsphantasien<br />
des Philosophen, die<br />
sich im Nachlaß der achtziger Jahre finden.<br />
Dort heißt es: „Eine Kriegserklärung<br />
der höheren Menschen an die Masse ist<br />
nötig! ... Alles, was verweichlicht, sanft<br />
macht, das ‚Volk‘ zur Geltung bringt oder<br />
das ‚Weibliche‘, wirkt zugunsten des suffrage<br />
universel, d. h. der Herrschaft der<br />
niederen Menschen. Aber wir wollen Repressalien<br />
üben und diese ganze Wirtschaft<br />
(...) ans Licht und vors Gericht bringen.“<br />
Und zuvor bemerkte <strong>Nietzsche</strong>: „Es<br />
bedarf einer Lehre, stark genug, um züchtend<br />
zu wirken: stärkend <strong>für</strong> die Starken,<br />
lähmend und zerbrechend <strong>für</strong> die Wehmüden.<br />
Die Vernichtung der verfallenden<br />
Rassen. ... Die Vernichtung des suffrage<br />
universel: d. h. des Systems, vermöge dessen<br />
die niedrigsten Naturen sich als Gesetz<br />
den Höheren vorschreiben. – Die Vernichtung<br />
der Mittelmäßigkeit und ihrer<br />
Geltung. (Die Einseitigen, einzelne – Völker;<br />
Fülle der Natur zu erstreben durch<br />
Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen<br />
dazu.)“ 34<br />
Aus den beschriebenen Auffassungen<br />
<strong>zum</strong> Umgang mit den Schwachen leitete<br />
<strong>Nietzsche</strong> auch eine besondere Moral <strong>für</strong><br />
Ärzte ab. Sie ging davon aus, daß der<br />
Kranke ein Parasit der <strong>Gesellschaft</strong> sei. In<br />
der „Götzen-Dämmerung“ forderte der<br />
Philosoph: „Eine neue Verantwortlichkeit<br />
schaffen, die des Arztes, <strong>für</strong> alle Fälle, wo<br />
das höchste Interesse des Lebens, des<br />
aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste<br />
Nieder- und Beiseite-Drängen des<br />
entarteten Lebens verlangt – <strong>zum</strong> Beispiel<br />
<strong>für</strong> das Recht auf Zeugung, <strong>für</strong> das Recht,<br />
geboren zu werden, <strong>für</strong> das Recht, zu leben<br />
...“ 35 Angesichts solcher Auffassungen<br />
dürfte es sicherlich nicht übertrieben<br />
sein, die spätere Euthanasie-Praxis im<br />
Nationalsozialismus 36 als konsequente<br />
Umsetzung einer solchen Moral anzusehen.<br />
Etwa 120.000 Behinderte und Geisteskranke<br />
ermordete man mit dem Hinweis<br />
auf deren „lebensunwertes Leben“.<br />
Zwar gibt es keine Belege da<strong>für</strong>, daß diese<br />
Taten durch den geistigen Einfluß<br />
<strong>Nietzsche</strong>s motivert waren. Gleichwohl<br />
entsprachen sie seinen zitierten Auffassungen<br />
und Forderungen.<br />
Einstellung <strong>zum</strong> Antisemitismus und zu<br />
den Juden<br />
Und schließlich muß vor dem Hintergrund<br />
der Fragestellung der vorliegenden Abhandlung<br />
auch nach <strong>Nietzsche</strong>s Einstellung<br />
<strong>zum</strong> Antisemitismus und zu den Juden<br />
dezidiert Stellung genommen werden.<br />
Ende der siebziger Jahre entstand eine<br />
antisemitische Bewegung, deren Agieren<br />
den Philosophen aus unterschiedlichen<br />
22 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000