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Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...

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dankenbildungen unzulänglich erklären,<br />

aber die bohrende Energie des Denkens<br />

als solche wird er zu bestaunen nicht<br />

umhin können. Mit seltener Rastlosigkeit<br />

– darin Richard Wagner wesensverwandt<br />

– jagte <strong>Nietzsche</strong> als Denker<br />

durch seine Welten und durchmaß Gebiete<br />

von größter Vielseitigkeit. Auch<br />

er ist verehrungswürdig in dieser Zähigkeit,<br />

in der Unermüdlichkeit seines Fleißes.<br />

Als Argonaut des Ideals, wie er sich<br />

selbst einmal kennzeichnet, eilte er von<br />

Stufe zu Stufe dem Lande seiner höchsten<br />

Hoffnung zu und suchte mit seiner<br />

Seele tiefster Sehnsucht neue Eilande<br />

unentdeckter Möglichkeiten des höheren<br />

Menschentums. Auch er in diesen<br />

formalen Zügen seiner Wesensart ein<br />

leuchtendes Vorbild auf dem Wege der<br />

Vollendung, ein unermüdlicher Sucher.<br />

...<br />

<strong>Nietzsche</strong> selbst kennzeichnet sich einmal<br />

als den ‚großen Frager in der Philosophie‘:<br />

Unleugbar zeichnet er sich aus<br />

durch eine Fülle neuartiger Problemstellungen,<br />

welche vor allem der Wertlehre<br />

angehören. Als Erster erhebt er die<br />

Moral als solche <strong>zum</strong> Problem und bemüht<br />

sich in origineller Weise um die<br />

Aufdeckung ihrer letzten Wurzeln, um<br />

ihre ‚Genealogie‘. Als Erster beginnt er<br />

biologische Faktoren wie die Ernährung<br />

<strong>für</strong> die ethische Gesamtverfassung des<br />

Menschen zu würdigen und die Leiblichkeit<br />

in den Umkreis der Wertsetzungen<br />

hineinzubeziehen. ‚Rechtwinkelig<br />

an Leib und Seele‘ wünscht Zarathustra<br />

seine Jünger. Als Vorläufer der Seelentiefenforschung,<br />

der Psychoanalyse, begibt<br />

sich <strong>Nietzsche</strong> in die Hintergründe<br />

des Bewußtseins und spürt den geheimsten<br />

Regungen nach, erhebt er vor allem<br />

die bedeutungsvolle Frage, ob irgendeine<br />

Wertsetzung oder Handlung<br />

der Macht oder Ohnmacht ihren Ursprung<br />

dankt. So grenzt er auch das starke<br />

weitblickende, auf ‚fernste Liebe‘<br />

gerichtete Mitleid scharf gegen das<br />

schwache Mitleid ab, das nur die engen<br />

Perspektiven des Nächsten kennt. Die<br />

anregende und weckende Kraft seiner<br />

Problemstellungen bleibt auch <strong>für</strong> den<br />

wertvoll, der seinen Problemlösungen<br />

die Zustimmung versagt. ...<br />

Als Verkünder eines kraftvollen Ja-<br />

Sagens <strong>zum</strong> Dasein, trotz, ja gerade<br />

wegen seines leidvollen Charakters, als<br />

Wecker eines starken Lebensglaubens<br />

darf <strong>Nietzsche</strong> in unserem Zeitalter eine<br />

aus mattem Pessimismus aufrüttelnde<br />

Bedeutung beanspruchen und wird dies<br />

mit seinen Grundakkorden <strong>für</strong> alle Zeiten<br />

behalten.“<br />

Anmerkungen:<br />

1<br />

Unethik deshalb, weil das Grundprinzip der<br />

Ethik das gleiche Wesen aller Menschen ist.<br />

<strong>Nietzsche</strong> besteht dagegen bewußt auf der Ungleichheit<br />

und macht sie <strong>zum</strong> Ausgangspunkt<br />

seiner „Umwertung“.<br />

Eine neue Wertlehre, welche die hergebrachte<br />

Ethik übersteigen will, wird jedoch nicht daraus<br />

erwachsen, daß man zunächst die „alte Ethik“<br />

einfach abschafft – ein völliges Verkennen dessen,<br />

wie sich genetische und epigenetische Evolution<br />

aus dem vorhergehenden Bestand entwikkelt.<br />

Ebenso wie einst die Ethik der Vernunft<br />

die Moralen des Verstandes und deren inneren<br />

Maßstab des Nutzens überwuchs, ohne doch <strong>für</strong><br />

sich selbst diese Nützlichkeit zu verwerfen, sondern<br />

sie als Basis beibehielt – eine nutzlose Ethik<br />

wäre ja ganz unnütz –, eben dasselbe gilt <strong>für</strong> das<br />

Übersteigen der Ethik der Vernunft: Eine neue<br />

Wertlehre muß im besten Hegelschen Sinne deren<br />

Gesichtspunkte des Nutzens und der Wesensgleichheit<br />

in sich aufheben.<br />

2<br />

„Nun, wenn kein feindseliger Gott uns hindert<br />

– praefiscine dixerim [unberufen!] – so soll im<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 127

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