Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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sein Erlebnis begeistert und plastisch:<br />
‚So versammelte uns dieses Colleg dreimal<br />
die Woche in seinem [d.h. <strong>Nietzsche</strong>s]<br />
traulich-eleganten Heim in einer<br />
Abendstunde, wo wir bei Lampenschein<br />
ihm zuhörten und die aus einem in weiches<br />
rotes Leder gebundenen Hefte diktierten<br />
Sätze niederschrieben. Auch hier<br />
hielt er im Vortrage oft inne, sei es um<br />
selbst nachzudenken, sei es um uns Zeit<br />
zu geben, das Gehörte einigermassen innerlich<br />
zu verarbeiten. Auch hatte er die<br />
Liebenswürdigkeit, uns gelegentlich<br />
Bier – Culmbacher – als Erfrischung<br />
anzubieten, wobei er selbst solches aus<br />
einer silbernen Schale zu trinken pflegte.‘<br />
Diese Vorlesung wurde erst 1912 aus<br />
dem Nachlaß unvollständig und eher<br />
schlecht ediert und blieb fast sechzig<br />
Jahre unbeachtet, bis französische Poststrukturalisten<br />
sie entdeckten. Danach<br />
sorgten <strong>Nietzsche</strong>s darin geäußerte und<br />
nunmehr ins Französische übersetzte<br />
radikale Theorien über die Sprache als<br />
Rhetorik und über die Theorie der Metapher<br />
und anderer Figuren <strong>für</strong> viel Furore<br />
unter Dekonstruktivisten auf beiden<br />
Seiten des Atlantiks. Philippe<br />
Lacoue-Labarthe, Jacques Derrida, Paul<br />
de Man und viele weniger namhafte<br />
Literaturtheoretiker analysierten scharfsinnig<br />
die Einzelheiten seiner Auffassungen<br />
und leiteten daraus weitreichende<br />
Konsequenzen ab. Aber inwiefern<br />
handelte es sich dabei um Auffassungen<br />
<strong>Nietzsche</strong>s? Eine genaue Analyse<br />
der Quellen einiger Kapitel, die ich gemeinsam<br />
mit dem Zürcher Komparatisten<br />
Thomas Fries vorgenommen habe,<br />
konnte die gelegentlich geäußerten Vermutungen<br />
früherer Gelehrter bestätigen<br />
und beweisen, daß <strong>zum</strong>indest in den untersuchten<br />
Stichproben beinahe der ganze<br />
‚<strong>Nietzsche</strong>‘-Text aus kollageartig zusammengesetzten<br />
Zitaten und Exzerpten<br />
damaliger Nachschlagewerke besteht.<br />
Anthonie Meijers und Martin<br />
Stingelin belegen in ‚<strong>Nietzsche</strong>-Studien<br />
17‘ die Übernahmen aus Gustav Gerber<br />
‚Die Sprache als Kunst‘: ‚nicht die<br />
Dinge treten in’s Bewußtsein, sondern<br />
die Art, wie wir zu ihnen stehen, je nach<br />
den einzelnen Lebensmomenten, in denen<br />
wir zu ihnen in Beziehung treten.<br />
Das ganze und volle Wesen der Dinge<br />
wird selbst nach dieser Seite, nach welcher<br />
sie eine Einwirkung auf uns ausüben,<br />
niemals in einem Blicke von uns<br />
erfasst.‘ (I, 169) <strong>Friedrich</strong> <strong>Nietzsche</strong>:<br />
‚Nicht die Dinge treten ins Bewußtsein,<br />
sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen....<br />
Das volle Wesen der Dinge wird<br />
nie erfasst.‘<br />
... Was als <strong>Nietzsche</strong>s Behauptungen die<br />
französischen Literaturtheoretiker in Erstaunen<br />
versetzte, entpuppt sich bei näherer<br />
Betrachtung als vereinfachte, verkürzte<br />
– und gerade dadurch oft radikalisierte<br />
– Äußerungen heute fast völlig<br />
in Vergessenheit geratener Sprachwissenschaftler<br />
und Philologen des 19.<br />
Jahrhunderts. Heißt das nun einerseits,<br />
<strong>Nietzsche</strong> hätte plagiiert? Nein, <strong>Nietzsche</strong><br />
ist ebensowenig ein Plagiator wie<br />
heutzutage der gewissenhafte Professor,<br />
der seine eigenen Vorlesungsstunden mit<br />
der Darlegung der Ergebnisse der neueren<br />
Forschungen ausfüllt.“<br />
Im Jahre 1873 verfertigte <strong>Nietzsche</strong> seine<br />
Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen<br />
Sinne – und deren zentrale<br />
These deckt sich so ziemlich mit der oben<br />
angeführten Aussage Gerbers:<br />
Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000 105