Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag - Gesellschaft für kritische ...
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Jahre 1884/5, in der er „ein rechtes echtes<br />
Wahrzeichen der deutschen Seele“ wiedererkennt:<br />
die Deutschen sind ihm „von<br />
vorgestern und von übermorgem – sie<br />
haben noch kein Heute“.<br />
Wie wir an Brahms schon gesehen haben,<br />
interessierte sich <strong>Nietzsche</strong> stets <strong>für</strong> die<br />
zeitgenössische Musik; so war insbesondere<br />
seine Klaviermusik – im Gegensatz<br />
zu seinen Liedkompositionen, die sich an<br />
Schumann orientierten – von den chromatischen<br />
Neuerungen Listzs, dem Schwiegervater<br />
Wagners, schon früh beeinflußt.<br />
Besonders deutlich wird dies an seiner<br />
Manfred-Meditation, einem längeren Klavierstück<br />
zu vier Händen, über deren Wert<br />
sich <strong>Nietzsche</strong> sich selbst nicht klar war:<br />
<strong>Nietzsche</strong> war im Hause Wagner der<br />
Name Hans von Bülow nicht unbekannt<br />
geblieben – und so sandte er ihm seine<br />
„Geburt der Tragödie“ zu (1872). Nach<br />
einem Besuch in Basel – Wagner bereitete<br />
sich bereits auf die endgültige Abreise<br />
nach Bayreuth vor – sah man sich in München<br />
wieder, wo Hans von Bülow auf<br />
Geheiß Ludwig II. und gegen den Willen<br />
Wagners Tristan und Isolde dirigierte.<br />
Für „den erhabensten Kunsteindruck meines<br />
Lebens“ dankend, nahm <strong>Nietzsche</strong><br />
dies <strong>zum</strong> Anlaß, Hans von Bülow seine<br />
Manfred-Meditation zur Beurteilung vorzulegen.<br />
In einem selbstironischen Anschreiben<br />
nannte er seine Musik „zweifelhaft“,<br />
gar „entsetzlich“. Diese Selbstqualifizierung<br />
<strong>Nietzsche</strong>s hielt Bülow jedoch<br />
nicht ab, eine ehrliche Antwort zu<br />
geben. Es handele sich um „das Extremste<br />
von phantastischer Extravaganz“, das<br />
„Unerquicklichste und Antimusikalischste“,<br />
was ihm seit langem zu Gesicht gekommen<br />
sei. Ob das Ganze ein Scherz sei,<br />
eine musikalische Parodie auf die „Zukunftsmusik“?<br />
Habe er mit Bewußtsein<br />
allen Regeln der Tonverbindung, der höheren<br />
Syntax wie der gewöhnlichen<br />
Rechtschreibung, Hohn gesprochen? Sein<br />
musikalisches Fieberprodukt sei in der<br />
Welt der Musik das gleiche wie ein Verbrechen<br />
in der moralischen Welt, die Muse<br />
der Musik, Euterpe, sei genotzüchtigt worden.<br />
Wenn er ihm einen guten Rat geben<br />
solle <strong>für</strong> den Fall, daß er „die Aberration<br />
ins Componiergebiet“ wirklich ernst gemeint<br />
habe, dann möge er Vokalmusik<br />
komponieren, da könne das Wort „auf dem<br />
wilden Tonmeere“ das Steuer führen. So<br />
sei seine Musik noch „entsetzlicher“, als<br />
er es selbst meine: nämlich in höchstem<br />
Maße schädlich <strong>für</strong> ihn selbst. Immerhin<br />
sei in dem „musikalischen Fieberprodukte“<br />
bei aller Verirrung ein distinguierter<br />
Geist zu spüren, und in gewissem Sinne<br />
sei er selbst, mit der Aufführung des<br />
Tristan, indirekt daran schuldig, „einen so<br />
hohen und erleuchteten Geist wie den<br />
Ihrigen, verehrter Herr Professor, in so<br />
bedauerliche Klavierkrämpfe gestürzt zu<br />
haben.“<br />
<strong>Nietzsche</strong> besaß jedenfalls genügend Freimut,<br />
den Brief seinen Freunden mitzuteilen;<br />
die erste Reaktion auf den Verriß von<br />
Bülows steht in einem Brief an Freund<br />
Gustav Krug, der ebenfalls komponierte;<br />
über dessen und seine eigene Musik<br />
tauschte er sich in eben dieser Zeit brieflich<br />
mit ihm aus und schrieb unter dem<br />
24.07.1872 an diesen aus Basel 17 :<br />
„... ich wenigstens habe wieder einmal <strong>für</strong><br />
sechs Jahr das Musikmachen verschworen.<br />
‚Der Ozean warf mich wieder einmal<br />
ans Land‘, im vorigen Winter, nämlich<br />
auf die Sandbank der Dir bekannten<br />
Kompositionen. Damit soll’s aber genug<br />
sein. Ich gerate, wie diese Kompositionen<br />
beweisen, in wahrhaft skandalöser Weise<br />
58 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 4/2000